„Verlockend“ – so lautet der Titel der tollen Ausstellung von Bildern von Christine Schneider, die noch bis 15. Januar 2025 im Foyer der Wirtschaftskammer Reutte in Tirol zu deren üblichen Öffnungszeiten zu sehen ist.. Klar, daß Ihr nicht alle bei der Vernissage im Rahmen der 35. Kulturzeit der Außerferner Kulturinitiative Huanza mit dabei sein konntet. Viele haben sich freilich für meine einführenden Worte interessiert. Daher veröffentliche ich sie in diesem Blogbeitrag:

Die Künstlerin vor ihren Werken (Foto: Alois Redolfi)

Und hier meine Rede:

Wie Ihr auf diesem Bild unschwer seht: „Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar.“

Diese wehmütige Erinnerung an meine allererste Zeit im Außerfern lässt mich spüren: Auch Locken gehören zu den Vergänglichkeiten des Lebens.

Doch das hat ja auch etwas Tröstliches:

Alles hat eben seine Zeit:

Locken haben ihre Zeit.

Der Pilzkopf hat seine Zeit.

Graue Haare haben ihre Zeit.

Und irgendwann hat ja vielleicht auch die Glatze ihre Zeit.

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Christine Schneider: „Marilyn Monroe“ (Zeichnung/Foto: Alois Redolfi)

Locken sind auch etwas Künstliches. Zumindest in unseren Gefilden.

Nur 15 Prozent von uns Europäern haben von Natur aus lockiges Haar.

Der Rest muß sie sich künstlich machen lassen.

Und das ist übrigens keine Sache der Moderne.

Dem antiken Jüngling, der draußen über der hinteren Eingangstür hängt und den ich (auch wegen dessen Farbgebung) über dem Portal einer von der Lava des Vesuv zerstörten Villa in Pompeji verorten würde, wurden sie vermutlich mit einem CALAMISTRUM gedreht – einem auf Holzasche erwärmten Bronze- oder Eisenrohr. Ganz schön pfiffig die alten Römer.

Christine Schneider: „Jüngling mit lockigem Haar“ (Mischtechnik auf Sackleinen/Foto: Alois Redolfi)

Die Lockenwickler in ihrer heutigen Form, wie sie auf Christines größtem Bild draußen zu sehen sind, wurden übrigens erst 1910 patentiert – von einem aus dem Schwarzwald stammenden Friseur. 

Christine Schneider: „Lockenwickler“ (Öl und Acryl auf Leinwand/Foto: Alois Redolfi)

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Aber ich frage mich:

Warum sind Locken eigentlich so beliebt – und zwar sowohl bei denen, die sie tragen, als auch bei denen, die sie bewundern und angesichts ihrer eine Ver-Lockung spüren beziehungsweise hineininterpretieren.

Weil wir anders sein wollen als die anderen 85 Prozent?

Weil wir anders sein wollen, als wir uns selbst erleben (egal, ob dieses unser Selbst-Bild nun richtig oder falsch ist)?

Weil wir anderen gefallen wollen?

Weil wir uns danach sehnen, einmal aus der Reihe zu tanzen – und das in einem von der Gesellschaft akzeptierten Rahmen?

Oder ist es das Fremde, Andersartige, das uns dabei be-fremdet und zugleich anzieht?

Waren und sind die Frauen, die Christine so wunderbar gezeichnet hat oder sich in dem fiktiven Mantel für Jackie Kennedy in Textilkunst widerspiegeln,

diese Frauen, die so bestaunt und bewundert wurden,

im Grunde ganz anders als wir sie kennen (oder zu kennen meinen)?

Dazu wird Christine nachher noch selbst etwas sagen.

Christine Schneider mit Sophia Loren und einem Internet-Model (Foto: Alois Redolfi)

Aber für mich verbinden sich all diese Fragen und Elemente in dem Gemälde „Ausstrahlung“ rechts auf der gegenüberliegenden Wand.

Christine Schneider: „Ausstrahlung“ (Öl und Acryl auf Leinwand/Foto: Alois Redolfi)

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Locken, verlocken – verlockend.

Ein buchstäblich verlockendes, verführerisches Wortspiel.

Aber um ehrlich zu sein: Vielleicht ist das purer Zufall.

Wie ich darauf komme?

Schauen wir mal einfach in andere Sprachen.

Im Englischen funktioniert das nämlich schon mal nicht. Die Locken sind die „Curls“ und die Verlockung die „Temptation“, die wir ja als die Versuchung aus dem Vaterunser kennen.

Und im Italienischen sind „Capelli ricci“ („reiche Haare“) das eine und die „Tentatione“ (analog zum Englischen) das andere.

Doch die Welt der Kunst hat ja ihre eigene Semantik. Und in der sind diese zwei Dinge dann doch in der Regel fast deckungsgleich.

Gustav Klimts „Judith“, die zahllosen Darstellungen von Bizets „Carmen“ und andere Verführerinnen scheinen wie selbstverständlich Locken zu haben.

Aber es gibt auch Umkehrungen, bei denen ich zuweilen schmunzeln muß.

Die Schlange aus der Geschichte vom Garten Eden hat in den allermeisten Darstellungen, die wir kennen, natürlich keine Locken – dafür aber Eva, die Verführte, die ja auch in Christines Bild „4 Frauen“ zu sehen ist.

Christine Schneider: „Vier Frauen“

Der Stier, als der sich Zeus tarnt, um sein Objekt der Begierde zu verführen (zu sehen über der Eingangstreppe), hat bei den alten Meistern keine sonderlich attraktive Haarpracht – dafür aber Europa, die Ver- und Entführte.

Christine Schneider: „Zeus und Europa“

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Ab und zu bricht bei mir dann doch wieder der Germanist durch.

So, als ich drüber sinniert und auch nachgeschaut habe, woher eigentlich das auf die Haare bezogene Wort „Locken“ kommt. Daß es seine Wurzel im Germanischen hat, mag nicht verwundern. Wohl aber seine Bedeutung: „Lukka“ waren eigentlich Laubbüschel.

Irgendwie passend.

Denn die Verlockung, der Christine besonders gerne erliegt, ist die Natur.

Hier findet sie die Stille, die sie in der Hektik der so genannten Moderne so sehr vermisst.

Und hier wächst ihr auch die schöpferische Kraft für Ihre Bilder zu.

Deswegen dürfen bei dieser Ausstellung natürlich auch Naturmotive nicht fehlen – der große Birkenwald, die als Leitmotiv immer wieder auftauchenden Edelweiße, die Alpenrosen, der Schmetterling, die überdimensionale Heuschrecke oder das Blatt im Winter hier.

Wirtschaftskammer-Bezirksstellenleiter Wolfgang Winkler mit Christines „Blatt im Winter“ – herzlichen Dank für die Möglichkeit zur Ausstellung und die wertschätzenden Worte bei der Vernissage (Foto: Alois Redolfi)
Christine Schneider: „Birkenwald“ (Foto: Alois Redolfi)

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Wir sehen also: Verlockungen und Verführungen gab und gibt es eine Menge.

Auch jenseits der Sexualität, die immer als Musterbeispiel dafür herhalten muß.

Vielleicht ist die ja nur ein Sinnbild für all das, was uns auf Ab- und Irrwege bringen will:

  • nicht zuletzt das Goldene Kalb.   

Aber auch

– die Anziehungskraft der Macht,

– die vermeintlich einfachen Lösungen für die schwierigen Probleme unserer Zeit,

– und auch das so bequeme sich Aus-allem-Heraushalten, damit man in nichts hineinkommt. Ein neues Biedermaier klopft an die Tür. 

  •   

Vielleicht geht Euch dies und ähnliches ja auch durch den Kopf, wenn Ihr diese Ausstellung betrachtet.

Alles hat seine Zeit.

Locken haben ihre Zeit.

Verlocken hat seine Zeit.

Der Verlockung widerstehen hat seine Zeit.

Und auch der Verlockung nachgeben hat seine Zeit.

Ich wünsche Euch eine schöne und inspirierende Zeit in und mit dieser Ausstellung.

Tolle Musik von den „fetzigen Vier“: Vielen Dank an Ralf…
Bettina…

…sowie Astrid und Günther.

Der Einführungsredner in Aktion (Foto: Alois Redolfi)

Nochmals ganz herzlichen Dank an Alois Redolfi für die wunderbaren Fotos – er ist ein wahrer Künstler!