Eigentlich handelt es sich um eine Art Etikettenschwindel: Das „Tal der Tempel“ liegt gar nicht in einem Tal. Sondern auf einem Hügel. Aber Zeus-iger als der Jupiter wollen wir dann doch auch nicht sein: Das einstige Akragas liegt zwar gut 100 Meter über dem Meeresspiegel, aber andererseits etwa 100 Meter unterhalb des heutigen Agrigent. Von dort aus sieht man also auf die toll erhaltenen antiken Stätten hinunter – wenn auch nicht in ein Tal.Und zum Ende unserer Wanderung auf der Magna Via Francigena mußten wir natürlich unbedingt dorthin.
Dort finden sich vielmehr die Gärten von Kolymbethra – die einstige Wasserversorgung der Stadt Akragas, deren Wurzel bis ins Jahr 582 vor Christus zurückreichen. Zu jener Zeit, als sich im Nahen Osten die Eliten Israels in Babylonischer Gefangenschaft befanden, ließen sich Auswanderer aus Rhodos hier an der Südküste Siziliens nieder und errichteten ein blühendes Gemeinwesen, das von dieser Senke (der Kolymbethra) aus über ein raffiniertes System aus Kanälen und Aquädukten mit dem kostbaren Nass versorgt wurde. Im Laufe der Zeit verlandete es, heute gedeihen dort Zitronen und Orangen, Feigen und Mandeln auf zum Teil Jahrhunderte alten Bäumen. Wer genügend Zeit hat, sollte sich diesen Teil der Tempelanlage nicht entgehen lassen.
Bevor man den Eingang der Anlage passiert, sollte man freilich erst einmal seine eigenen Taschen und Rucksäcke filzen. Ich hatte das nicht gemacht, kam mit kompletter Wandermontur dort an – und scheiterte gleich zweimal am Sicherheitscheck, der dem am Flughafen sehr ähnelt. Der grantig dreinschauende Security-Mann entdeckte Messer, von denen ich selbst nicht mehr wusste, dass ich sie dabei hatte. Dafür gebührt ihm all seiner schlechten Laune zum Trotz im Grunde ein Dankeschön…
Oben auf der Höhe werde ich gleich mal mit einem Rätsel konfrontiert: Die ersten Tempelreste, die ich sehe, sind nämlich den Chthonischen Göttern geweiht. Nicht nur, daß das für mich ein Zungenbrecher ist – davon hatte ich in meinem ganzen Leben noch nichts gehört, obwohl mir mein Vater in meiner Kindheit natürlich Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ in die Hand gedrückt hatte. Vielleicht hab ich es nicht intensiv genug gelesen oder es stand tatsächlich nichts von denen drin. Zumindest nicht unter dieser Bezeichnung.
Auf jeden Fall muss ich mich kundig machen. Und weiß nun, daß diese schier unaussprechlichen Gottheiten als der Erde zugehörig gelten und sowohl todbringend als auch Leben spendend sein sollten. Die prominentesten waren Hades (der Herr der Unterwelt, den schon Homer in der Ilias zum Gegenpart zum im Olymp thronenden Zeus erklärte) und dessen Frau Persephone auf der einen und die Muttergöttin Demeter, die für Fruchtbarkeit des Bodens und somit den Ackerbau, Saat und Ernte „zuständig“ war, auf der anderen Seite.
Die Archäologen vermuten, dass hier quasi die „Keimzelle“ der Kultstätten von Akragas war – und auch die Sikaner, die hier vor den Griechen siedelten, ihre Gottheiten verehrten. Die Arbeit der Forscher ist offenkundig noch lange nicht beendet – während unseres Besuchs waren junge Leute aus Frankreich (ich nehme mal an, Studenten) fleißig bei der Grabungs- und exakten Kartierungsarbeit.
Überaus malerisch reckt sich auf diesem westlichen Plateau des alten Akragas eine Ecke des Dioskurentempels in den Himmel. Ob der seinen Namen zurecht trägt, bezweifeln mittlerweile viele Forscher. Sicher scheint nur, daß diese Dioskuren, wie Castor und Pollux (zwei Söhne des Zeus) auch genannt werden, in dieser Stadt hoch verehrt wurde. Heute ordnet man denen aber eher den Concordiatempel (davon später) zu. Ich bin natürlich begeistert und fotografiere dieses Drei-Säulen-Eck aus den verschiedensten Perspektiven. Erst später kriege ich mit, daß Historiker meine Begeisterung keineswegs teilen, sondern eher für grauslich halten (obwohl es zu einem der Wahrzeichen des Tals der Tempels avanciert ist): In Wahrheit wurde es nämlich aus Bauteilen verschiedenster Stilepochen „zusammengeschustert“. So leicht kann man sich also täuschen (lassen)…
Steht von diesem Bauwerk eine Ecke, ragen beim Heraklestempel in der Nähe der „goldenen Pforte“ an der Südseite der Stadtmauer seit 1924 wieder acht dieser mächtigen Pfeiler gen Himmel. Dieser Tempel spielt übrigens in einer der unter Lateinschülern berühmt-berüchtigten Anklagereden, die Marcus Tullius Cicero (einst Quaestor – also sowohl Finanzverwalter als auch eine Art Untersuchungsrichter – auf Sizilien) gegen den von ihm der Korruption bezichtigten sizilianischen Statthalter Gaius Verres hielt. Der sollte den Raub der riesigen Herakles-Statue, aus Bronze deren Lippen und Kinn von den Berührungen der Pilgern abgescheuert war, aus diesem Tempel geplant haben.
So beeindruckend der Heraklestempel ist – mit dem Concordiatempel ein paar Hundert Meter weiter kann er nicht mithalten. Der gehört zu den besterhaltenen Gebäuden der griechischen Antike, gibt allerdings auch Rätsel auf: Man weiß gar nicht, welche Gottheit dort eigentlich verehrt wurde (mittlerweile tendiert man wie gesagt eher zu den Dioskuren Castor und Pollux). Der Name ist eigentlich ein Fantasieprodukt: Ihn wählte man, weil man in der Nähe eine Inschrift aus der Römerzeit fand, die die Eintracht (lateinisch: Concordia) der Bürger des alten Agrigent rühmte.
Diejenigen, die ihm vor rund zweieinhalb Jahrtausenden erbauten, waren auf jeden Fall Meister ihres Fachs: Der Höhenunterschied der einzelnen Joche beträgt im Höchstfall gerade mal einen halben Zentimeter. Ich kann nur staunen, denn solch ein altes Gebäude in dieser Dimension habe ich noch nie gesehen, und angesichts dessen spüre ich tatsächlich auch den berühmten Hauch der Geschichte um mich wehen.
Vielleicht ist dieser Tempel ja auch nicht zuletzt deshalb so eindrucksvoll erhalten geblieben, weil ihn Bischof Gregorius von Agrigent 597 in eine christliche Basilika „transformieren“ ließ, die rund 1000 Jahre bestand. Nach ihrer Entwidmung 1748 setzte man den Bau nach und nach wieder in den Originalzustand zurück.
Gleich nebenan stößt man indes noch auf ein beeindruckendes Zeugnis der frühen Christenheit: die Nekropole. Zwischen dem 3. und dem 9. Jahrhundert wurden entstanden diese Gräber im Kalkstein des Hügels hier , manche Toten wurden auch (vielleicht um Platz zu sparen) in einer Embryostellung begraben.
Es gibt hier im Tal der Tempel indes noch viel mehr zu sehen als nur alte Steine. Ein riesiger gestürzter Ikarus des polnischen Bildhauers Igor Mitoraj schlägt mich ebenso in den Bann wie ein uralter Olivenbaum, angesichts dessen ich mich frage, ob wohl die Bewohner des alten Akragas schon von ihm gegessen haben. Er ist so imposant, daß ich das durchaus für möglich halte.
Und auch der „Garten der Gerechten“ berührt mich. Dort wird unter anderem den Geschwistern Scholl gedacht. Aber auch Jakob und Elisabeth Künzler wird die Ehre gegeben. Deren Namen sagen mir im ersten Moment nichts. Aber auf der Erinnerungstafel lese ich, daß es sich um einen gelernten Zimmermann sowie evangelischen Diakon und Missionar aus dem Schweizer Kanton Appenzell handelt(e), der sich mit seiner Frau vor gut einem Jahrhundert während und nach dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich und dem Libanon um Tausende Witwen und Waisen kümmerte. 2700 Menschen konnten sie dank guter Beziehungen auch zu Muslimen zur Flucht nach Aleppo verhelfen, später eröffneten sie in der Nähe von Beirut ein Zentrum für 1400 Waisenmädchen, von denen viele dort auch eine Ausbildung zur Teppichweberin absolvieren konnten. Wegen seines enormen Einsatzes wurde Künzler von den Armeniern auch „Bruder Jacob“ genannt. Wie gut, daß solche Menschen nicht völlig in Vergessenheit geraten!
Dass dieses Areal so groß sein würde, hätte ich mir vor unserem Besuch nicht gedacht. Und so wird uns langsam die Zeit knapp. Aber zu dem Tempel am östlichen Ende der Anlage wollten wir doch noch unbedingt hin. Denn der trägt schließlich den Namen von Hera, der Gattin des Zeus – und das ist natürlich für Christine als Frau ganz besonders interessant.
Aber mit dem Heratempel ist das auch so eine Sache. Auch da weiß man gar nicht, ob Name und Wirklichkeit überhaupt miteinander in Einklang zu bringen sind. Denn auch hier rätselt man, welcher Gottheit er tatsächlich geweiht war. Für mich wäre es plausibel gewesen, daß der Hera-Tempel im Osten ein Gegenpol zum Zeus-Tempel im Westen der Stadt sein könnte – aber dafür existieren keinerlei Belege.
Fest steht aber, daß diese Kultstätte nur etwa 50 Jahre nach ihrem Bau zerstört wurde: Im Jahre 406 vor Christus fielen nämlich die Karthager mit ihrem bis dahin größten Invasionsheer in Sizilien ein. Den Bewohnern von Akragas ahnten, was ihnen blühte und flüchteten gen Osten. Kampflos konnten die Männer aus Nordafrika die Stadt plündern und brannten unter anderem diesen Tempel nieder. Es war auch eine Art Rache: Denn 80 Jahre davor hatte sich Akragas mit anderen griechischen Städten zusammengetan, ihrerseits Karthago überfallen und dort reiche Beute gemacht. Immerhin setzten die Römer diesen Tempel wieder instand, die 25 erhaltenen Säulen (einst waren es 34) zeichnen sich ebenso beeindruckend vor dem Abendhimmel ab wie der mächtige (stolze 300 Quadratmeter große) Altar. Da muß natürlich ein ausgiebiges Photoshooting einfach sein.
Nun müssen wir uns sputen, noch rechtzeitig zum Ausgang zu kommen. Denn um 20 Uhr macht dieses faszinierende Freilichtmuseum zu, und schon zehn Minuten später fährt der letzte Bus hinauf ins heutige Agrigent. Und den wollen wir unbedingt noch kriegen. Denn während unserer Tempel-Tour haben wir schon ordentlich Schritte auf dem Pedometer gesammelt, da müssen die gut 2 Kilometer bis zu unserem Quartier nicht mehr unbedingt sein. Aber gleichzeitig ist diese Abendstimmung inmitten der alten Gemäuer doch auch etwas ganz Besonderes.
Das Olympieon (die Reste des gewaltigen Zeustempels) können wir so quasi nur noch im Schnelldurchgang erleben. Und hier kommen wir dann gedanklich doch wieder zum Heratempel am anderen Ende der Stadt zurück. Der Tyrann Theron hatte nach dem Sieg gegen die Karthager in der Schlacht von Himera (dabei kam übrigens Hamilkar Barkas, der Opa des berühmten Hannibal ums Leben) diesen mächtigen Tempel errichten lassen. Damit wollte er auch die Übermacht des griechischen Geistes über die Barbaren symbolisieren. Und so sind die umgestürzten Monumentalstatuen keineswegs, wie wir ursprünglich annehmen, Darstellungen des Zeus, sondern „Atlanten“, die die Last des Gebälks trugen. Dass ihre Gesichter nordafrikanische Züge trugen, war natürlich auch wohlbedacht – darin spiegelt sich die Tatsache wider, daß die unterlegenen „Barbaren“ für die Griechen Sklavenarbeit tun mussten.
Das riesige Exemplar, das wir fotografieren, ist übrigens nur eine Kopie des Originals im Archäologischen Museums von Agrigent. Und eine künstlerische Umsetzung davon wurde zum Logo für die Kulturhauptstadt Italiens im Jahr 2025: Agrigent. So wurde den Barbaren dann doch noch späte Ehre zuteil…
Der Siegt Therons und seiner Bundesgenossen (oder besser gesagt: die riesigen Plünderungen danach) war vor 2500 Jahren Quelle eines unglaublichen Reichtums von Akragas: „Sie schwelgen, als würden sie morgen sterben – und sie bauen, als würden sie ewig leben“, notierte der Philosoph und Politiker Empedokles, der heute wohl bekannteste Bürger der antiken Stadt, über seine Mitbürger und Leben in Pomp und Pracht.
Und bei Lichte betrachtet, profitieren deren Nachfahren in Agrigent ja heute noch davon…