Den größten Teil des zweiten Abschnitts unserer Pilgerschaft auf der Magna Via Francigena haben wir nun schon hinter uns gebracht. Voller Freude und Spannung gehen wir nun die letzte Etappe nach Agrigent an.
Joppolo Giancaxio ist ein nettes kleines Dorf, dessen Name für mich irgendwie en bißchen Chinesisch kling – auch wenn es dafür keinen realen Hintergrund geben dürfte.
In der Bar Il Gufo („Zur Eule“), die mich wieder an Leonardo Sciascias Krimi „Der Tag der Eule“ denken läßt, lassen wir uns nochmal für die für uns traditionellen Croissants (oder Brioches) schmecken, bevor wir zur finalen Etappe unserer Pilgerschaft aufbrechen.
Unsere Gastgeberin in den Case di Grazia, wo wir wunderbar geschlafen hatten, war sehr stolz auf das Castello im Ort, und so schauen wir auf unserem Weiterweg auch an der einstigen Burg, die mittlerweile ein SPA-Hotel ist, vorbei: Sicher romantischen anzusehen, doch wir sind mit unseren verschwitzten Wander-Klamotten heuer doch in einer anderen (niedrigeren) Preisklasse unterwegs.
Und eigentlich begeistert mich auch der Wohnblock am Ortsende mit seiner künstlerisch gestalteten Fassade mehr. Da handelt es sich um ganz einfache Wohnanlagen, nicht für die oberen Zehntausend, sondern für das einfache Volk gebaut – und dennoch so liebevoll verschönert. Und ich frage mich, warum so etwas in unserem im Vergleich zu hier immer noch reichen mitteleuropäischen deutschsprachigen Raum nur in einem äußerst begrenzten Umfang möglich zu sein scheint. Hier auf Sizilien, zumal in diesem Hinterland voller Armut, gibt es diese Zeichen der Hoffnung (als die ich das empfinde) praktisch in jedem Dorf.
Überhaupt beschäftigt mich auch dies Die Armut ist hier allgegenwärtig und unübersehbar. Doch die vielen Menschen, die offensichtlich davon betroffen sind und sich weder neue Kleidung noch eine Zahnarzt-Behandlung leisten können, stehen nicht am Rande – sie gehören dazu, sind mittendrin, verstecken sich nicht, grüßen freundlich, freuen sich über eine Unterhaltung. Es erschreckt mich regelrecht, wie viel an natürlicher Menschlichkeit in unserer so genannten „Wohlstandsgesellschaft“ verloren gegangen ist. Und ich frage mich, wer denn nun eigentlich die in Wahrheit „armen Länder“ Europas und der Welt sind.
Zeit zum Sinnieren bleibt auf dieser eher kurzen 16-Kilometer-Etappe genug, denn viel Spektakuläres wartet unterwegs nicht. Oder etwa doch? Für mich sind zum Beispiel die blühenden Feld- und Wiesenraine durchaus spektakulär , die man bei uns durch ökologische Förderprogramme mühsam versucht, wieder zum Aufleben und Aufblühen zu bringen (nachdem ihnen die „moderne“ Landwirtschaft den Garaus bereitet hatte). Hier sind sie Realität und Normalität. Und mir kommt auch wieder in den Sinn, daß wir auf der Anreise in Apulien an einer Raststätte anhalten und wie Scheiben putzen mußten, weil sie das Leben so vieler Insekten gekostet hatten, wie das bei uns mittlerweile (leider) völlig unvorstellbar ist.
Auch für solche Einordnungen unserer mitteleuropäischen Überheblichkeit ist eine Wanderung auf der Magna Via Francigena ganz gut.
Sie führt einem freilich auch die Probleme eines Landes vor Augen, die angesichts des Klimawandels noch größer zu werden drohen. Drunten im einzigen Tal, das wir heute zu durchschreiten haben, weitet sich nämlich eine riesige Bewässerungsanlage – doch dort befindet sich offenkundig schon seit Jahren kein Tropfen Wasser drin. So rottet das Ding vor sich hin – ob es jemals wieder in Betrieb gesetzt werden kann? Oder wuchert im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit darüber hin?
Empfinde ich bei diesem Problem tiefes Mitleid, kann einen das nächste nur erzürnen: Müll! Nach einer großen Kreuzung zur Halbzeit dieser Schluss-Etappe stinkt es rund 8 Kilometer vor dem Ziel buchstäblich kilometerlang zum Himmel! Die Straßenränder „zieren“ kaum noch Blumen, statt dessen die Abfälle einer Wegwerfgesellschaft, die man in diesem Fall getrost wörtlich zu nehmen vermag. Von „gedankenlos“ weggeschmissenem Müll kann hier keine Rede sein – das wurde und wird hier ja bewusst gemacht. Und dieser „Müll-Boullevard“ ist ja gar nicht der einzige auf dieser Pilgerwanderung, auf dieser Insel und in dieser Stadt: Ich frage mich: Wie kann jemand, der sein Land, der seine Heimat liebt, so etwas tun? Und ich finde auch nach Jahren keine Antwort darauf…
Man könnte angesichts dessen verstehen, wenn es da einige den amerikanischen Pilgern nachtun würden, die uns am Abend vorher angekündigt hatten, daß sie sich diese Etappe sparen und lieber mit dem Bus nach Agrigent fahren. Auch auf der Facebook-Seite der Amici della Magna Via Francigena wird das immer wieder thematisiert.
Aber für mich gehören auch solche Dinge zu einem Pilgerweg: der hat wie das (eigene) Leben eben nicht nur seine schönen, sondern auch seine dunklen, zuweilen dreckigen Seiten…
Innerlich philosophierend (und Christine ob des Mülls zuweilen auch grummelnd) erreichen wir dann nach gut vier Kilometern endlich die Abzweigung von dem mehr und mehr von Autos und Lkws befahrenen „Abfall-Highway“ und können durch ein kleines Wäldchen und können emporsteigen. Ein streunender Hund trägt dort ein riesiges Stück Innereien (vielleicht eine Lunge?) an uns vorbei, läßt sich nieder – doch offensichtlich fehlt ihm angesichts des unverhofften Treffens mit uns dann die nötige Muße zum Festmahl – und er trollt sich wieder…
Eine Anlage, die vermutlich mal ein Park war, mittlerweile aber von der Natur zurückerobert wird, signalisiert uns, daß es nicht mehr weit bis zum Ziel sein kann – und tatsächlich durchschreiten wir nur ein Viertelstündchen später das in Fels gehauene einstige Stadttor des antiken Agrigent.
Durch ihren morbiden Charme schlägt uns die Stadt sofort in ihren Bann. Durch ein Gewirr kleiner und kleinster Gässchen schlagen wir uns über unzählige Treppenstufen bis zum höchsten Punkt der Stadt – der Kathedrale, den Dom oder wie immer man sie (oder ihn) nun auch nennen mag.
Nach vierjähriger Pause haben wir es jetzt tatsächlich geschafft – und dieses Gefühl ist einfach wunderbar. Angesichts des „Beweisfotos“, das natürlich sein muss, fällt mir ein: Wir haben unsere Pilgerpässe daheim in Reutte vergessen….
Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wir wissen ja, was hinter uns liegt.
Und streben frohe Mutes über die Via Duomo der Pasticceria Rizzo zu, wo wir uns mit Aperol Spritz und einem herrlichen Gelato (unter anderem mit einer Cassata siciliana) belohnen.
Schön war’s!
Info
Gegangen am 22. April 2024
Länge: 16 km
Dauer: 5 Stunden
Höhenunterschied: 360 Meter Aufstieg, 320 Meter Abstieg
Und hier der Link zur Originalseite der Magna Via Francigena (mit GPX-Datei):
https://www.viefrancigenedisicilia.it/tappa.php?idV=1&id=9
Und hier die Links zu unseren vorigen Etappen:
Magna Via Francigena 2024 (2): Racalmuto – Joppolo Giancaxio