Die Magna Via Francigena von Palermo nach Agrigent – ein (zumindest im deutschsprachigen Raum) eher unbekannter Pilgerweg. Und dennoch gibt es dort viel zu erleben.    Auf der heutigen Etappe wichtig: Genügend zu trinken mitnehmen!

Zu Beginn unserer zweiten (und damit vorletzten) Etappe spinnt unsere Navigation über Alpenvereinaktiv etwas. Wir laufen zunächst in die falsche Richtung, was uns aber immerhin zu einigen Highlights von Racalmuto führt: An der Burg, dem Castello Chiaramontano, und einer beeindruckenden riesigen historischen Brunnenanlage, der Fonrana Novi Cannola, wären wir sonst nie vorbeigekommen.

Das Castello Chiaramontano in Racalmuto.

Als wir immer weiter bergab schreiten kommt uns das Ganze dann doch etwas komisch vor und wir orientieren uns neu.

Am Rande der Altstadt spricht mich in der Nähe eines Kirchleins ein älterer Mann an. Er hat so gut wie keine Stimme mehr, kann nur noch krächzen, bittet mich aber in ein kleines Häuschen, in dessen Erdgeschoss er ein kleines Museum eingerichtet hat, das dem Salzbergbau von Racalmuto gewidmet ist. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen, unter welch harten Bedindungen hier einst Speisesalz abgebaut wurde – auch Pferde gingen mit unter Tage.

Blick ins kleine Salzmuseum von Racalmuto.

Zum Abschied schenkt   er mir ein Stückchen Salz und krächzt immer wieder voller Stolz, daß er früher auch schon in Bregenz und Sankt Gallen gearbeitet hat. Sein kleines Museum ist für ihn wohl auch ein Mittel, seiner Krankheit zu trotzen. Und das berührt mich sehr.

Nun fällt uns Schritt für Schritt die Orientierung hinaus aus dem Städtchen, das mit dem Teatro Regina Margherita sogar ein eigenes Stadttheater hat, leichter. Auf dem Weg bergan ruft uns eine vermutlich etwas verwirrte Frau hinterher, wir sollten sollten uns aus diesem „Scheiß-Nest“ („Paese merda“) trollen, und ich kann nicht so recht einordnen, ob sich ihre Wut und ihr Frust hauptsächlich auf ihren Heimatort oder auf uns beziehen…

Wir wandern an der Fondazione (Stiftung) Leonardo Sciascia vorbei – ein Name, der mir bis einige Stunden zuvor noch gar nichts sagte. Aber daß wir am Abend zuvor gerade noch den letzten freien Tisch bei Giusi im Bistro 73 ergattern konnten, hatte auch damit zu tun, daß fast das gesamte Lokal für eine Tafelei dieser Fondazione reserviert war, deren Gäste sich hier nach einer Buchvorstellung an Giusis Büfett voller Köstlichkeiten gütlich taten.

Meine Recherchen ergeben: Sciascia arbeitete als Lehrer in Racalmuto, bevor er den ersten Anti-Mafia-Literaturkrimi verfasste: „Der Tag der Eule“ wurde auch verfilmt – mit Claudia Cardinale in der Hauptrolle. Ich nehme mir mal wieder vor, daheim auf die Suche nach Film oder Buch zu gehen. Mal schauen, was daraus wird…

Auf jeden Fall scheint Sciascia ein beeindruckender Mann gewesen zu sein – nicht nur Autor, sondern auch Politiker in Palermo, Rom und Europa. Und voller Skepsis darüber, ob die großen Mafia-Prozesse, so gewaltige Dimensionen sie auch erreichten, wirklich die Wurzel des Übels erreicht hätten…

Leonardo Sciascia, dem großen Sohn Racalmutos, ist sogar eine Süßigkeit gewidmet…

Der Weg aus dem Städtchen hinaus zieht sich ziemlich. Vorbei an einem Nachkriegs-Wohnblockviertel, erreichen wir auf der Via Rosario Livatino (einer Straße, die nach einem Staatsanwalt und Anti-Mafia-Kämpfer, der ermordet wurde und dem wir später in Agrigent noch begegnen werden, benannt ist) die Höhe und wandern vorbei an privaten kleinen Olivenhainen die restichen Kilometer bis Grotte, dem „offiziellen“ Zielort der gestrigen Etappe. Wobei ich meine Zweifel habe, ob wir das am Abend zuvor noch vor Einbruch der Dunkelhet geschafft hätten.

Das erste, das uns in Grotte ins Auge sticht, sind bemalte Hauswände – eine Frau mit Schlangenspiegel, kurz darauf eine andere, um die sich eine riesige Schlange räkelt. Meine Schwester Uta fragt mich später, ob diese Schlange irgendeine Bedeutung habe. Ich denke da natürlich zuerst an die Bibel und die Schöpfungsgeschichte (das Sündhafte also), stoße dann aber darauf, daß die Schlange im sizilianischen Wappen auch für Weisheit und Heilung steht – in Anlehnung an den griechischen Gott Aeskulap, dessen Schlange sich ja auch auf dem Apotherker-Zeichen findet.

Die Frau mit dem „Schlangenspiegel“…

… und die nächste „Schlangenfrau“ von Grotte.

Punkt 12 Uhr mittags erreichen wir das Zentrum des Dorfes – und erleben auf der Piazza eines der romantischen Glockenspiele, die Tag für Tag von den sizilianischen Kirchtürmen herniederklingen..

Jetzt, nach 4,7 Kilometern, befinden wir uns mithin am „eigentlichen“ Beginn unserer heutigen Etappe. Doch das stört uns nicht groß´- wir sind gut in Tritt, das Wetter ist prima, die Landschaft wunderschön. Den Weg bergab säumen alte Natursteinmauern, über die einige Eidechsen in ihre Nischen huschen. Auf der folgenden Bergauf-Strecke fasziniert und ein mächtiger Solitär-Fels mit vielen kleinen Höhlen – ein Paradies für Vögel und Fledermäuse.

Ein imposanter Solitärfels – ein Paradies für Vögel und Fledermäuse.

Unsere Mittags-Jause nehmen wir unter einem der wenigen Bäume an diesem Hügel ein. So was will hier gut geplant sein, denn Schatten ist äußerst rar in dieser Region. Man vermag sich kaum vorzustellen, daß Sizilien einst völlig mit Wald bedeckt war, der dann dem über Jahrhunderte boomenden Schiffsbau zum Opfer fiel.

„Auf und nieder immer wieder“ – so ließe sich auch das Höhenprofil dieser Etappe zusammenfassen. Auch wenn die Hügel hier nicht so hoch sindwie die Berge daheim in Tirol, so sammeln sich im Laufe des Tages doch stattliche Höhenmeter an – und das summiert sich letztlich am Ende des Tages dann doch zu einer Almwanderung auf.

Wir sind froh, mit Comitini am Fuße des nächsten Hügels wieder auf ein Dorf zu treffen, denn wir befinden uns hier offensichtlich in einer überaus wasserarmen Zone. Sämtliche mutmaßlichen Bächlein und real existierede Brunnen sind trocken gefallen, und das macht vor allem Arco, unserem treuen vierbeinigen Begleiter, doch sichtlich zu schaffen.

Eine rote Bank mit weißer Aufschrift zieht auf einer Piazzetta unsere Blicke auf sich: „Denk dran: Liebe schlägt nicht ins Gesicht!“ Es überrascht und fasziniert mich zugleich, daß wie vor vier Jahren, als wir dieseTour begannen und von Corona gestoppt wurden, das THema „Gewalt gegen Frauen“ auch und gerade in den kleinen Dörfern des immer noch patriarchalisch geprägten Sizilien so präsent ist.

„Liebe schlägt nicht ins Gesicht!“: Protest gegen Gewalt gegen Frauen in Comitini.

Ansonsten zeigt hier nicht gerade viel Präsenz – während der Siesta kommt hier das Leben zum Erliegen. Sogar die einzige Bar am durchaus schmucken Dorfplatz mit einem schönen Brunnen, den neben dem Palazzo ein Zitat des sizilianischen Literatur-Nobelpreisträgers Luigi Pirandello ziert, hat über Mittag erstaunlicherweise zu. Und so müssen wir erkennen, daß unser Traum von einer Gelati-Pause sich als Fata Morgana entpuppt.

Dn Brunnen von Comitini ziert ein Zitat aus Luigi Pirandellos Novelle „Ciaula entdeckt den Mond“: „Diese anderen … Da waren sie und zogen die kleine Straße hinunter, die nach Comitini führte; sie lachten und schrien…“

Also: Nochmal und noch weiter nach unten – und gleich wieder hinauf. Denn auf dem nächsten Hügel wartet schon Aragona. Das Städtchen sieht größer aus – dort wartet doch sicher eine Gelateria auf uns! Doch auch hier werden wir mit der ernüchternden Siesta-Erfahrung konfrontiert: Alles öffnet hier erst um 16.30 Uhr. In einer Bar, in der gerade geputzt wird, erbarmt ma sich gottlob unser und gibt uns wenigstens etwas Zuckerhaltiges (mithin nicht Gesundes) zu trinken: Lemonsoda und Chinotto dämpfen meinen Gelato-Frust…

Alles ist zu: die Piazza Umberto I. von Aragona.

Daß wir danach noch weiter hinauf müssen, verwundert uns dann gar nicht mehr. Nach einer asphaltierten Trasse wartet dann immerhin der vom Untergrund her anmutigste Teil unserer heutigen Etappe, der aber leider für uns zu schnell wieder zu Ende geht. Aber immerhin sehen wir jetzt schon Joppolo Giancaxio, unser heutiges Ziel, vor (oder besser gesagt: über) uns. Die zackigen Schlussanstiege stören uns mittlerweile weniger, als daß sie uns motivieren. ZUdem ruft mir schon oben auf der Höhe ein Esel Begrüßungs-Laute zu. Es klingt wie: „Hallo, Kollege – schön, daß Du jetzt da bist!“

Am Ortseingang heißt uns dann ein Wandgemälde mit einem Pilger mit Laterne willkommen – wir aber haben die für diesesmal längste Etappe noch rechtzeitig vor Sonnenuntergang abgeschlossen und auch (nach anfänglicher Unsicherheit, ob es in diesem Dorf überhaupt ein Quartier gibt, in das man Hunde mitbringen darf) in den Case di Grazia auch noch ein Domizil direkt an der Piazza mit einer überaus freundlichen Gastgeberin, die gleich noch Tipps für Agrigent parat hat, gefunden. Und auch die Pasta im nahen Ristorante Pellegrino (Pilger) mundet hervorragend.

Ein Pilger mit Laterne heißt uns willkommen…

Das Schwierigste auf unserem zweiten Abschnitt auf der Magna Via Francigena dürften wir also geschafft haben. Und so freuen wir uns schon sehr darauf, morgen nach vierjähriger Verzögerung endlich unser Ziel zu erreichen.

Vollmond-Nacht in Joppolo Giancaxio.

Unser Zimmer in den Case di Grazia.

Infos

Gegangen am 21. April 2024
Länge: 22 Kilometer
Höhenunterschied: etwa 700 Meter aufstieg und 800 Meter Abstieg
Und hier der Link zur Originalseite der Magna Via Francigena (mit GPX-Datei):
https://www.viefrancigenedisicilia.it/tappa.php?idV=1&id=8

Hier der Link zu unserer vorigen Etappe:
https://www.juergengerrmann.eu/2024/04/magna-via-francigena-2024-1-campofranco-racalmuto/