Eine Pilgerschaft auf der Via de la Plata ist kein Spaziergang. Zuweilen kann man auch auf dem Zahnfleisch daherkommen. Wie wir auf dieser schier endlosen Etappe.
Der Morgen beginnt mit dem blanken Entsetzen: Wir stehen topfit um 6 Uhr auf. Schließlich haben wir heute die „Königsetappe“ unserer diesjährigen Pilgerschaft vor uns. Daher verzichten wir aufs Frühstück, obwohl es unterwegs keine Einkehrmöglichkeit gibt, sind munter und fidel – allerdings nur, bis wir die Tür unseres Quartiers in der Casa Batalla in Casar de Caceres hinter uns zugeschlagen haben. Dann fällt uns siedig-heiß ein und auf: Christines Wanderstöcke sind noch im Zimmer – und wir kommen nicht mehr rein! Wir haben sie vergessen, weil uns Arnold Schwarzeneggers unter die Haut gehender Appell an seine russischen Freude, den Krieg in der Ukraine zu stoppen, so sehr berührt hat.
Da ist es ein Glück, daß unsere Pilgerfreunde Manuela und Torsten noch einen Ruhetag mehr eingelegt haben. Unsere Bitte, doch am nächsten Tag unsere Stöcke abzuholen, wird sofort erhört – noch heute ganz herzlichen Dank dafür!
Nachdem das geklärt ist, schreiten wir viel entspannter weiter voran. Pilgern, Wandern, Leben – all das heißt auch Teilen. Und nicht zuletzt das macht all das ja auch so schön. Und so gebe ich einen meiner Wanderstöcke an Christine ab. und habe denEindruck, dass ich so sogar noch besser laufe.
Doch unverhofft kommt oft: Plötzlich tauchen zwei Hunde auf. Wir erschrecken zuerst, denn wir haben ja schon oft gehört, wie gefährlich die Hunde in Spanien sein sollen. Paulo Coelho, dessen Buch „Auf dem Jakobsweg“ mich ja 2002 zum Aufbruch zu meiner ersten Pilgerschaft und aus meiner damaligen unglücklichen Lebenssituation motiviert hatte (allerdings nicht auf der Hauptroute des Jakobsweges, dem Camino Frances nach Santiago, sondern über Jahre hinweg nach Rom und letztlich zu Christine) sah in einem schwarzen Hund ja den Inbegriff oder gar die Reinkarnation des Teufels.
Aber diese Zeitgenossen werden diesem (Vor)Urteil nicht gerecht. Sie sind eher scheu, schauen verwundert, wenn man sie anspricht, zucken zuerst zurück, wenn man sie streicheln will. Mit Arco, unserem Perro Peregrino, gibt es nicht die befürchteten Probleme, und so wandern wir munter weiter, bis wir bemerken: Arco fehlt!
Wo ist er wohl? Christine bleibt mit den Rucksäcken an einem zum Frühstück geeigneten Platz, ich marschiere wieder rund einen halben Kilometer zurück – um zu bemerken, daß Arco „amore inflammatus – wie der Lateiner zu sagen pflegt(e) – ist. Anders gesagt: Die Hormone spiel’n verrückt, wie es in einem Song der Neuen Deutschen Welle 1985 hieß. Ich ziehe ihn weg von seiner Herzensdame und muß ihn in die ursprüngliche Richtung eher tragen, als daß er geht. Mit unserem Frühstück ist es auch nicht mehr weit her, weil uns die beiden weißen Hunde gefolgt sind und genauso verrückt auf unsere Wurst sind. Und so nehmen wir Arco halt an die Leine und ziehen mit der ganzen Hundeschar im Schlepptau weiter.
Die Extremadura-Hunde kennen ihre Revier genau, und vor einem Weidetor biegen sie ab. Nun können wir Arco endlich wieder einigermaßen im „Normalzustand“ erleben und dadurch die herrliche Landschaft endlich streßfrei genießen.
Die Granitblöcke auf den Weiden schlagen mich in den Bann. Manche scheinen wie von einem Gletscher glatt geschliffen. Einer sieht aus, als wäre er der Hinkelstein, auf dem Asterix und Obelix ihre Wildsau verspeisen. Ein anderer erinnert an einen Wal, der sich an Land verirrt hat. Und das da drüben – ist das nicht ein Chamäleon oder eine Riesenechse?
Das da links im Gras sind auf jeden Fall umgestürzte römische Meilensteine – und zwar sechs auf einem Fleck. War hier eine wichtige Station oder Kreuzung an dieser historischen Straße? Oder wurden sie schon in uralter Zeit auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen? Plötzlich ist mir ein Text von Rudolf Alexander Schröder präsent, der auch in unser evangelisches Gesangbuch aufgenommen wurde:
„Es mag sein, daß alles fällt,
daß die Burgen dieser Welt
um Dich her in Trümmer brechen.
Halte Du den Glauben fest,
daß Dich Gott nicht fallen läßt.
Er hält sein Versprechen.“
Der Gedankensprung zum Krieg in der Ukraine ist nur kurz. Ich bin sicher, daß Putin diesen Krieg schon verloren hat, obwohl er ihn vermeintlich und vermutlich nach herkömmlichem Verständnis „gewinnen“ wird – sein Ansehen ist zerstört, niemand wird ihm mehr glauben und eines Tages „sein eigenes“ Volk sich von ihm abwenden. Wenn auch vielleicht wie bei anderen großen Verbrechern unter den Herrschenden erst nach seinem Tod.
Ich denke auch an die Burgen meiner Welt, die um mich und in mir zerbrochen sind. Manchmal war es schade, aber oft war es auch gut so…
Wir machen Pause in der Nähe einer Schaffarm, vor der sich auch wieder zwei Hunde recht energisch gezeigt hatten. Wir setzen uns an einen Haufen von Granitsteinen, und plötzlich stürmen erneut drei junge Hunde herbei und tollen um uns und mit uns herum, bis sie ihr Herrchen wieder zurückpfeift. Doch lange bleiben wir nicht alleine. Das nächste Hundekommando ist schon einsatzbereit – stattliche Gestalten gesellen sich nun abermals über Kilometer zu uns, und Arco hat sich einmal mehr bis über beide Ohren verliebt. Doch die Dame seines Herzens reagiert mit einer Mischung aus Gelassenheit und Gleichgültigkeit…
Auf jeden Fall hat Christine viel zu lachen. Der grüßte der drei sucht hingegen stets meine Nähe, legt sich zu Boden, reicht mir seine Pfoten, läßt sich kraulen. „Auch die größten Hunde sehnen sich doch im Grunde nur nach Liebe“, denke ich mir. Auch unter uns Menschen.
Auf jeden Fall ist er mir während dieser Stunde gemeinsamer Wanderschaft ein guter Kumpel und ich fantasiere bereits darüber, wieviel Platz noch in unserem hervorragenden Ford Transit Euroline für Arco und mich bliebe, wenn er die ganze Zeit neben uns hertrottet und wir ihn mit nach Hause nehmen müßten. Aber dann kommt ein Auto entgegen, ein junger steigt an einem romantischen weißen Haus aus, mein Kamerad rennt gleich zu ihm hin und läßt sich streicheln. „Hola!“, begrüßt mich der junge Mann: „Ich bin Jesus!“ So also siehst Du aus…
Ein kleines Weilchen gehen die Hunde noch mit, aber am Tor zu einer weiteren Weide von Jesus verabschieden sie sich. Wunderschön waren diese „Hunde-Stunden“ für uns. Aber nun fällt es uns wie Schuppen von den Augen: Wir haben dabei gewaltig viel Zeit vertrödelt und müssen erneut eine Aufholjagd starten – wir haben noch nicht mal die Hälfte der 33 Kilometer geschafft, und es schon weit über Mittag, als wir die Schnellbahntrasse überqueren und registrieren, daß die kommende Wegstrecke doch recht kompliziert ist. Zuerst geht’s über angenehme Pfade, und ih drehe das Video des Tages mit Blick auf den Tejo-Stausee. Thema: der immer schlimmer werdende Wassermangel.
Dann werden wir wieder zur Nationalstraße 630 hinuntergelotst, und ich bin fast froh, daß wir der jetzt über sieben Kilometer und zwei lange Brücken folgen müssen, denn dadurch fehlt ja auch die Versuchung zum Trödeln. Wobei der Blick auf den Zufluss des Tejo, des mit über 1000 Kilometern längsten Flusses der iberischen Halbinsel, schon beeindruckend ist.
Gegen 16.30 Uhr haben wir die zweite Brücke überquert, von hier sollen es „nur“ noch 10,7 Kilometer bis zum heutigen Ziel sein. So gönnen wir uns noch eine Pause, essen was, brechen kurz nach 17 Uhr auf – aber unsere Kräfte schwinden immer mehr. Wir scheinen Canaveral auch nicht so richtig näher zu kommen, es ist zum Verzweifeln! Der Sonnenuntergang ist zwar wunderschön, aber auch demotivierend und demoralisierend: Es sind immer noch vier Kilometer, und das bedeutet, daß wir auf keinen Fall mehr bei Tageslicht ankommen werden.
Auch der Bruder Vollmond, der uns am Morgen gemeinsam mit Schwester Sonne begrüßt hat, schwächelt. Und so muß Christine ihre Stirnlampe aus dem Rucksack holen. Gemeinsam schwanken und wanken wir im Stockdunkel über einen ob totaler Unebenheit und zuweilen großer Felsbrocken gar nicht so ungefährlichen Weg Richtung Ziel. Von Wandern kann nun keine Rede mehr sein, es ist der pure Überlebenskampf, zumal der Rezeptionist unseres Quartiers im Hostal Canaveral Feierabend machen will und immer wieder nachfragt, wann wir denn endlich ankämen. Um halb 10 sind wir endlich in unserer wunderbaren Ferienwohnung, die wir aber gar nicht genießen können, sondern nur erschöpft auf der Couch herumliegen. Nach Essen ist uns nicht mehr zumute. Einziger Genuss: zwei kleine Dosen Bier.
erlebt am 18. März 2022
notiert am 24. März 2022
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