Donnerstag, 11.Juli 2013: Der Charme des alten Jugendstil-Hotels aus einer untergegangenen Zeit hat uns gut schlafen lassen. Und zum ersten Mal seh ich ihn wirklich unverhüllt: den Rocciamelone, den mit 3538 Metern höchsten Wallfahrtsberg Europas. Der Anblick fasziniert mich so, daß ich ihn noch vor dem Frühstück von unserem kleinen Balkon aus fotografieren muß.
Wir gehen ja entgegengesetzt der Richtung, die Iris Kürschner und Dieter Haas in ihrem hervorragenden Wanderführer, der im Rother Bergverlag erschienen ist, empfohlen haben. Die schreiben von einem „extrem steilen Abstieg“. Was für uns bedeutet: extrem steiler Aufstieg.
Vielleicht ist ja gerade das, wovor am sich am meisten fürchtet, dann in der Wirklichkeit gar nicht so schlimm. Auf jeden Fall nervt uns weniger die Steigung als die Unklarheit des Weges, der alles andere als optimal markiert ist. Viele sind ihn noch nicht gegangen, denn er wächst gerade in unserem Anfangsteil extrem zu. Und tatsächlich versteigen wir uns auch und merken erst an einem Felsen, der uns den Weg versperrt, daß wir falsch sind. Am übernächsten Abend erfahren wir dann im Quartier im Albergo Les Montagnards in Balme von anderen Wanderern, daß es denen wohl an derselben Stelle ähnlich ergangen ist.
Gottlob sind wir nicht allzu lang in die Irre gegangen, finden dann doch den richtigen Einstieg. Und wir sind erstaunt, wie schnell wir all unseren Befürchtungen zum Trotz dann doch hochkommen. Am Bech de la Rama, einem markanten Vorsprung in der Landschaft, sind wir schon 500 Meter über dem Valle di Viu, dem ersten der drei Lanzo-Täler, die wir durchschreiten.
Blöd nur, dass wir nicht einfach um den Torre d’Ovarda, der mit 3075 Meter hier die Szenerie beherrscht und sich links von uns emportürmt, herumgehen können. Ein Felssturz versperrt uns und allen anderen GTA-Fans den Weg. Wir müssen etwa 200 Meter hinabsteigen. Aber die Almwiese dort drunten ist ideal für unser Mittagsvesper.
Die ganze Zeit über haben wir uns schon gewundert, wie viel Wasser es hier gibt. Unsere Angst aus den Vorjahren, nicht genügend zu trinken zu haben, ist hier völlig unbegründet. Überall plätschert hier ein Bächlein, sprudelt eine Quelle, stürzt ein Wasserfall mal mehr, mal weniger gewaltig herunter. Möglichkeiten zur Erfrischung gibt es also eine Menge. Und wir nutzen sie gerne.
Die Steinböcke, die etwa 250 Meter weiter oben von einer schmalen Felszinne auf uns herabblicken, stört das freilich nicht. Sie kommen problemlos mit dieser Verspätung zurecht. Und wir fragen uns: Wer beobachtet denn nun eigentlich wen? Die uns oder wir die? Vermutlich stimmt beides. Auf jeden Fall ist es ein erhebender Eindruck, der in mir einmal mehr Ehrfurcht vor der Schöpfung aufkommen läßt.
Da sind wir uns schon sicher: Wir wollen nicht hetzen. Die Nacht werden wir im Biwak verbringen und den Nachmittag gemütlich ausklingen lassen. Ich gehe mal davon aus, daß die letzten 210 Meter Abstieg dorthin ein besserer Spaziergang werden. Ich male mir schon aus, was ich dann tun werde: Blog schreiben? Lesen? In einem klaren Bächlein kneippen oder gar baden?
Typischer Fall von denkste: Erstmal kommen wieder einige Schneefelder, dann führt der Weg über Felsbrocken. So was mag ich einfach nicht. Und so wird es eine elende Schinderei. Ich zweifle schon, ob ich nicht an unserem Quartier vorbeimarschiert bin, weil mein Zeitplan nicht mehr mit der Strecke übereinstimmt.
Aber dann biegen wir um eine echte, und dann ist es auf 2220 Metern doch da, mitten in einem letzten Schneerest: das Bivacco Gino Gandolfo, gewidmet einem einst berühmten Bergführer der Lanzo-Täler und errichtet vom Rotary-Club. Ob es daran liegt, daß es so relativ komfortabel ist? Ist mir jetzt egal, ich muß mich erstmal hinlegen, nachdem meine Schuhe und Strümpfe von dem vielen Schnee doch sehr durchnässt sind und ich die Erschöpfung und die Kälte spüre.
Wie lang ich da unter dem herrlich warmen Teppich gelegen habe, ist mir nicht klar. Auf jeden Fall sind es unbekannte Stimmen, die sich nähern und mich wecken: Es sind Andreas und Anton aus Berlin, die am Morgen mit dem Flugzeug zu ihrer Vater-Sohn-Tour 2013 aufgenbrochen sind. 14 ist Anton jetzt und ein echter GTA-Fan, der noch freiwillig wandert! Das nötigt mir allen Respekt ab. Daß es so etwas noch gibt…
Und auch sonst wird es ein netter Abend. Wir teilen Tee, Speck, Käse und Brot und reden viel über Gott und die Welt, Berlin und die Provinz. Und über Gemeinsamkeiten. Denn Andreas ist ein Kollege, im selben Metier wie ich und pflegt noch gerne die klassische Pressearbeit. Sehr sympathisch!
So vergeht die Zeit wie im Fluge, die Nacht sinkt hernieder, und als ich nachts raus vors Biwak muss, werden mir erneut regelrecht ergreifende Augen-Blicke geschenkt: Es scheint, als küsse das Sternbild des großen Wagens die Felswand direkt vor uns. So nah kommen sich die beiden. So was gibt es wohl nur in den Bergen.
Daß ich das noch erleben durfte…