Mittwoch, 10.Juli: Die Nacht war prima im Rifugio Vulpot. Auch wenn die Bauarbeiter unten im Hof schon um 7 Uhr mit ihrem Tagwerk angefangen haben. Aber was soll’s. Aufstehen muss man ja ohnehin.
Die Sonne begrüßt uns, als wir kurz vor 10 dann zu unserer heutigen Etappe aufbrechen.
Wir kommen etwas später weg als gedacht, weil wir uns noch mit einem freundlichen Italiener unterhalten, der gleich drei Hunde hat. Er kommt immer zur Kurz-Entspannung hier an den Lago, schätzt die Ruhe und das gute Essen hier. Er muss es wissen, denn es stellt sich heraus, daß er selbst ein Restaurant führt: die Trattoria del Moro in Avigliana in der Nähe von Turin. Wir sollen doch mal vorbeikommen, sagt er. Und vielleicht tun wir das ja tatsächlich.
Jetzt folgen wir aber erst mal dem Rat von Ileana Bruno, der Wirtin: Wir sollen nicht die Straße runter nach Usseglio. Sondern die Decauville benutzen. Das ist eine aufgelassene Schmalspur-Eisenbahn, die dereinst die Kraftwerksgesellschaft gebaut hat, vermutlich um den Staudamm zu bauen.
Sie zu finden ist freilich gar nicht so leicht. Aber dann entdecken wir doch die paar Stufen, die links von der Straße wegführen. Daß wir schon nach ein paar Metern Eisentritte im Fels benutzen müssen, um auf der Trasse zu bleiben, hätten wir uns freilich nicht gedacht. Gerade für Arco, unseren Hund, ist das schon eine Herausforderung. Ihm schlottern die Knie, Christine wuchtet ihn nach oben, ich packe ihn am Fell – und dann schafft er es tatsächlich doch.
Von nun an wird es etwas bequemer. Wir bleiben immer auf derselben Höhe. Immer wieder sieht man die alten Gleise noch, zuweilen ragen sie aus dem Boden. Man muss ein gutes Auge haben, um die Reste dieses Bähnles zu entdecken, aber Fans der Industriegeschichte werden hier sicher ihre Freude haben.
Nun wechseln wir. Christine geht voran. Sie hat ja (im Gegensatz zu mir) Wanderstöcke mit dabei, stochert damit vor sich her. Vor etwa 15 Jahren hätte ich in dieser Dunkelheit noch eine Panikattacke bekommen, weil ich davon ausgegangen wäre, daß die Felsdecke just in dem Moment, in dem ich hier durchgehe, zusammenstürzt. Gottseidank ist das jetzt vorbei.
Aber dennoch kann ich nachvollziehen, was das geflügelte Wort bedeutet: „Ich sehe Licht am Ende des Tunnels.“
Doch nach dem Tunnel nicht nur das. In dem Licht glänzen die verschiedensten Blüten: Von den verschiedensten Orchideen angefangen bis hin zu den Feuerlilien, die mir immer mehr ans Herz wachsen. Und der Weg geht immer fast auf einer Ebene dahin. Wirklich angenehm zu gehen.
Dann aber wächst er immer weiter zu. Arco, unser Hund, der brav seinen Rucksack mit sich schleppt, verschwindet im Erlengebüsch und taucht nach einer Weile auf – ohne das Päckchen, das er zu tragen hatte. Wirkliche Qualität hatte der fressnapf hier also nicht zu bieten. Nach drei Tagen schon eine Verlustmeldung – das ist schon ein bißle früh.
Aber wir machen uns keine Sorgen. Der Weg ist einfach zu schön. Den paar Wolken am Himmel schenken wir gar keine Beachtung, auch nicht der Tatsache, daß unser Weg auf der Karte nur bis zu einer bestimmten Stelle rot eingezeichnet ist.
Als wir da ankommen, stellen wir fest, daß das der höchste Punkt der Fallleitung eines Pumpspeicherwerkes der ENEL, der italienischen Stromgesellschaft ist. Es geht nicht weiter. Keinen Schritt. Dafür geht aber just in diesem Moment ein Gewitter nieder. Wir schlüpfen schnell in unsere Regenkleider und drücken uns gegen die Wand. Pitschnass werden wir trotzdem. Aber gottlob dauert es nicht allzu lang.
Nun müssen wir wieder etwa einen Kilometer zurück, bis wir auf einem Querweg absteigen können. Schlecht markiert. Aber wir schlagen uns irgendwie durch. Und werden mit einer Blumenwiese belohnt, wie ich sie seit meiner Kindheit, als ich mit Vati und meimer Schwester Birgit zum Muttertagsblumenpflücken gegangen bin, nicht mehr gesehen habe.
In einer Trattoria in Margone nehmen wir noch einen Tee beziehungsweise einen Kaffee, bevor wir dann der Straße entlang nach Usseglio absteigen.
Vorbei an alten Villen, von denen eine sogar ein Partisanen-Hospital war. Sie verfallen zunehmend. Manchmal hab ich den Eindruck, in Indien zu sein. So sehr verlottert hier manches Zeugnis der Blütezeit des Tourismus in den Valli di Lanzo an der Wende vom 19. bis 20. Jahrhundert.
Geschlafen haben wir dort auch wieder ganz prima. Hier der Link zum Hotel:http://www.albergo-rocciamelone.com.