Der Sonntag bringt unsere erste Herausforderung: von der Alpe Piazza, wo wir am Abend zuvor mit regionalen Köstlichkeiten verwöhnt wurden, soll es zum Passo San Marco und noch drüber hinaus gehen. Hütte und Passhöhe liegen nur 200 Höhenmeter von einander entfernt. Aber wie man sich täuschen kann!
Es dauert zwar nicht lange, bis wir die ersten 80 Höhenmeter hinter uns gebracht haben. Alles sieht total leicht aus. Aber gottlob begegnen wir einem jungen Mann, der den Sonntag nutzt, um den Weg hoch zum Monte Lago zu markieren. Und der klärt uns auf: Wir sind falsch. Auf dem Weg zum Gipfel, von wo es kein Weiterkommen gibt.
Wir haben uns verstiegen, Gottseidank nicht allzusehr. Aber das zeigt uns schon: Mit der Markierung steht es auf der Gran Via Delle Orobie (GVO), wie unser Weg heißt, nicht immer zum Besten.
Unser Spürsinn führt uns erstmal dennoch durch den richtigen Einschnitt im Wald, und kurz vor der Alpe Lago lockt ein kleines Wildbächlein Christine zum Bade. Es ist schon jetzt ziemlich heiß, aber ich will ja nicht über die Sonne jammern.
Kurz danach wird es abenteuerlich. Man muß Winnetou-Fähigkeiten im Spurenlesen haben, denn ein Hinweis auf den richtigen Pfad zum Passo San Marco fehlt völlig. Aus der Ferne ist er irgendwie zu erkennen, in der Nähe muß man ihn eher erahnen. Aber wir ahnen richtig.
Schon ewige Zeiten ist hier wohl keiner mehr gegangen. Das Gras ist hoch und überwuchert den Pfad, der bemerkenswert steil ist. Ich kämpfe mit aufwärts und brauche an der ersten ebenen Stelle eine Trinkpause. Dann geht es flott weiter bis zum nächsten Bächlein, wo auf die Mittagsjause ein (ungeplantes) Mittagsschläfle folgt. Christine bevorzugt derweil Yoga.
Kurze Zeit später treffen wir auf den Hauptweg der GVO. Nochmals wandern wir (jetzt super-markiert) durch einen herrlichen Wald zu einer verlassenen Alm, in deren Nähe der in grüner Schrift das Wort „Fine“ steht. Das kenn ich eher als Schluß von italienischen Filmen. Aber in diesem Fall heißt es eher: Schluß der Markierung.
Der eigentliche Weg ist nur schwer zu erkennen, diesmal Versagen auch unsere Ahnungskünste. Wir tappen erst ein paar Mal im Kreis, bevor wir uns einigermaßen sicher sind. Und versteigen uns im Wald nochmals. Also: wieder zurück!
Endlich entdecken wir ein nahezu total verwittertes Zeichen, dank dem wir uns hinunter zur Passstraße durchschlagen können. Ihr müssen wir uns erfreulicherweise nur ein paar hundert Meter anvertrauen, dann zweigt eine Schotterpiste ab, die dann in die Via Priula, die alte Handelsstraße der Republik Venedig hinüber ins Veltlin, übergeht.
Ich bin heilfroh, daß schon die Venezianer an Serpentinen gedacht haben. Und die vielen Strommasten hinauf zum Pass sind zwar potthäßlich, aber deren Sockel geben mir die Chance, mich wieder hinzusetzen und zu trinken.
Danach ist der so weit weg erscheinende Pass plötzlich ganz nah. Mein Schritt, der vorher so schwer war, wird wieder leicht(er). Oben auf 1985 Meter ist zwar auch abends um 19 Uhr noch ziemlicher Rummel (leider ist die Landplage der Motorradfahrer auch hier schon eingefallen), aber der Blick auf die Veltliner Seite der Bergamasker Alpen (wo wir herkommen) auf die Provinz Bergamo (wo wir hinwollen) ist trotzdem grandios.
Die Via Priula bringt uns die letzten 100 Höhenmeter sicher hinunter zum Rifugio Passo San Marco 2000 (die Zahl ist indes keine Höhenangabe, sondern bezieht sich wohl auf das Baujahr), aber obwohl es auf den ersten Blick auch sehr touristisch anmutet, bekommen wir ein schönes Zimmer und erneut ein tolles regionales Essen. Zum ersten Mal genieße ich Rotolo (eine gerollte Pasta, gefüllt mit Speck und etwas, was hier Bergspinat genannt wird, von dem ich aber nicht weiß, was das sein soll, das ganze überbacken mit Käse).
Kalorienbombe pur. Die Steinpilze mit Pommes sind demgegenüber ein Klacks. Aber egal. Ich schlafe danach prächtig.
Gegangen am Sonntag, 30. Juli 2017. Geschrieben am Montag, 31. Juli.
Start: 9 Uhr
Ankunft: 18.30 Uhr
Länge: 16 Kilometer
Höhenunterschied: 600 Meter auf und ab.
Übernachtung: Rifugio San Marco 2000; gemütliches Ziel mit eigenem Bad; gutes regionales Essen; nicht vom touristischen äußeren und der Lage an der Passstraße abschrecken lassen!