„Aller guten Dinge sind drei“: Ob das auch für unsere Tour auf dem Fernwanderweg Vom Gletscher zum Wein, der auf zwei Routen (eine im Süden, eine im Norden) durch die wunderschöne Steiermark mit all ihrer landschaftlichen und kulturellen Vielfalt führt, gilt? Immerhin gilt ja auch die andere Wanderer-Weisheit: „Der dritteTag ist immer der schwerste.“ Abschnitt, der heute vor uns führt, ist geradezu ideal, um zu ergründen, welche Variante nun zutrifft: Stolze 23 Kilometer warten heut auf uns.
Der Anstieg hält sich mit knapp 450 Metern zwar in Grenzen, aber 1450 Meter bergab sind ja wahrlich auch nicht ohne. Und da die reine Gehzeit schon mit acht Stunden angegeben ist, schwant uns, die wir in den vergangenen Tagen ja immer der Marschtabelle hinterhergehinkt sind: Heute müssen wir uns am Riemen reißen. Trödeln ist nicht drin.
Aber Irmi, die Wirtin der Stoderhütte, hat uns ein so leckeres und auch reichhaltiges Frühstück zubereitet und ist zudem eine tolle Gesprächspartnerin, daß wir doch nicht so schnell los kommen, wie wir das eigentlich wollen. Aber um 7.56 Uhr kann dann doch das Abschiedsfoto von diesem gemütlichen Ort und seinen Wirtsleuten gemacht werden. Und das ist für unsere Verhältnisse schon ziemlich gut.
Daß wir nun von der Stoderhütte zwei Kilometer zurück auf dem selben Weg gehen müssen, mit dem unsere gestrige Tour endete, stört mich nicht groß: denn erstes hat mich dieser „Märchenwald“ schon auf dem Hinweg begeistert und zweitens kann man den Brandner Urwald in entgegengesetzter Richtung ja durchaus auch anders erleben. So verfliegt die Zeit, und wir merken kaum, dass schon eine halbe Stunde vergangen ist, als wir zur Abzweigung Richtung Viehbergalm kommen.
Nun also betreten wir absolutes Neuland, und auch das ist voller Idylle. Für die dürften die Schmuggler, die dereinst Salz von Hallstatt ins Ennstal und die Ramsau brachten und auf dem Rückweg Vogelbeerschnaps für die Bergknappen transportiert haben, aber kein großes Auge gehabt haben. Ihnen kam es hauptsächlich drauf an, nicht erwischt zu werden. Romantik hin oder her.
Wie wir heute mussten sie damals eine Engstelle passieren. Deren Name lässt darauf schließen, dass es dort zuweilen nicht ganz ungefährlich zuging: Notgasse. Dieser Saumpfad vom Ennstal nach Hallstatt (und auf die Almen des Dachstein-Massivs) wurde schon zur Bronzezeit begangen – also schon vor rund 3000 Jahren. Geologen schätzen, dass diese eigen-artige Schlucht vor etwa 12 000 Jahren vom Schmelzwasser des Dachsteingletschers geschaffen wurde. 60 Meter tief ist sie – und an manchen Stellen nur ein paar Meter breit. Was Wanderer heutzutage in den Bann schlägt, machte in früheren Zeiten vielleicht vielen Menschen auch Angst – man wusste ja nie, wann und ob ein Felsbrocken sich löste und auf einen herniederstürzte. Einige gewaltige Exemplare säumen auf jeden Fall unseren Weg.
Als wir die Klamm für etwa eine halbe Stunde durchqueren, frage ich mich, ob die in die Felswände geritzten Zeichnungen ihre Wurzel vielleicht darin haben, daß man mit diesen Bildern Schutz erflehte oder sich dankbar zeigte, wenn alles gut gegangen war – also ähnlich den Kapellen, die im Mittelalter zu Beginn und am Ende gefährlicher Wegstrecken erbaut wurden (nicht selten rief man darin gleich alle 14 Nothelfer an). Wer weiß!
Auf den ersten Blick kann man die über 500 bildlichen Darstellungen, die sich über eine Strecke von 500 Meter verteilen, nicht entdecken. Aber es lohnt sich schon, genauer hinzuschauen. Und wenn das Auge dann für ein paar Minuten „geschult“ ist, dann zeigen sich immer mehr.
Aus der Urgeschichte stammen nach den Erkentnissen der Forscher nur (noch) wenige. Was den „Künstlern“ die Arbeit erleichterte (der wasserlösliche Kalkstein ist mit einfachen Werkzeugen leicht zu bearbeiten), ist heute ein großer Nachteil – denn er verwittert eben auch schnell. Das Bedauerliche darüber hinaus: Ein paar „Spaßvögeln“ macht(e) es offensichtlich immer wieder besondere Freude, diese Zeugnisse uralter alpiner Kultur zu demolieren. Da kann man wahrlich nur mit dem Kopf schütteln.
Dass der Löwenanteil der Ritzbilder aus dem Mittelalter und der Neuzeit stammen, macht sie übrigens dennoch keineswegs „zweit- oder drittklassig“. Denn auch sie erzählen Geschichte(n) – läßt sich sich doch an ihnen auch ablesen, wer da alles im Lauf der Jahrhunderte durch diese hohle Gasse der besonderen Art kam. Die Motive stammen aus Arbeit, Brauchtum und Religion, scheinen aber ab und an durchaus von der vor- und frühgeschichtlichen Symbolik inspiriert. Almleute und Jäger, Säumer und Schmuggler, aber auch Arbeiter von der Köhlerei auf der Großen Wiesmahd, wie die Almregion hier heißt, hinterließen hier ihre Spuren. Und einen kennt man sogar ganz konkret: Johann Schröfl, Großbauer aus dem nahen Gröbming und lutherischen Glaubens, ritzte hier 1751 seine Ackergeräte in den Fels: Pflug und Sense, Gabel und Rechen – und dazu noch einen Getreidesack. Er signierte sein Werk sogar noch: mit I. Sch..
Einfach gedankenlos durch die Notgasse zu schlendern – das bekommt wohl kaum einer hin. Denn unweigerlich bekommt die Fantasie Flügel: Was könnte dies, was könnte das bedeuten? Wer hat dieses und jenes Motiv in den Fels geritzt? Und wann könnte das gewesen sein. Diese und ähnliche Gedanken begleiten einen noch, wenn man die Notgasse schon lange hinter sich gelassen hat.
Schon bald danach sind wir an einem Forstweg, der uns zur Brandalm führt. Dieser Name erinnert daran, daß hier im Wald früher Köhlerei betrieben und Holzkohle produziert wurde. Auch die freien Flächen mitten im Wald zeugen noch davon.
Beim romantischen Pfad, auf den wir hier wechseln können, müssen wir nicht lange überlegen, woher dessen Bezeichnung stammt: Bettlersteig. Die Natur hier ist allerdings keineswegs arm, sondern überaus reich: Türkenbund, Eisenhut und andere wunderbare Blumen lassen mein Herz höher schlagen.
Und so merken wir kaum, wie die Zeitvergeht. Bodo Hell, mein Schriftsteller-Kollege, der mittlerweile leider auf seiner geliebten Grafenbergalm spurlos verschwunden zu sein scheint (es wird vermutet, daß er bei der Suche nach zwei vermissten Kühen verunglückt ist), hat mir aufgetragen, seiner Senner-Kollegin Marianne Gruber auf der Viehbergalm noch herzliche Grüße auszurichten. In dem romantischen kleinen Almdorf auf 1450 Metern herrscht um die Mittagszeit natürlich Hochbetrieb: Es ist herrliches Wetter, und über die Forstwege kann man mit dem Mountainbike ohne große Probleme von Bad Mitterndorf oder Gröbming leicht hierher kommen. Und Mariannes Ritzingerhütte ist ob des tollen gastronomischen Angebotes weithin bekannt.
Wir müssen also etwas warten, aber das stört uns nicht. An der 1853 erbauten Hütte ist es einfach urgemütlich. „A zwoa, a drei Krapfen und a Kasbröckl drauf, is auf der Ritzingerhütte allweil der Brauch“, heißt es bei den Einheimischen, und auch wir können uns da nur anschließen. Wir entscheiden uns für die legendären Krapfen – allerdings in zwei Varianten.
Christine wählt die Woazernen – das sind die traditionellen, die wir ja auch in Tirol kennen. Süß. Mit Marmelade in der Einbuchtung in der Mitte. Und sie kommt schon beim ersten Bissen ins Schwärmen.
Ich bin heute abenteuerlustig drauf. Der Steirerkrapfen wird nämlich aus Roggenmehl gemacht. Und er ist auch nicht süß. „Lieben oder lassen“, heißt es über den Steirerkas, der mit ihm aufgetischt wird. Und genau das lockt mich an. Der Ennstaler Steirerkas kann sich nämlich mit Stolz geschwellter Brust als den „einzigen bröseligen Urkäse der Alpen“ bezeichnen. Das hat auch die EU anerkannt und ihm das Kennzeichen „geschützte Ursprungsbezeichnung“ zuerkannt. „G.U.“, das mußt Du unbedingt schreiben“, sagt Marianne nicht nur einmal. Was ist hiermit natürlich auch gern tue.
Auf seinen strengen Geschmack hat mich schon Christina vom Stadtbräu in Schladming zwei Tage davor hingewiesen und mich fast schon gewarnt. Insofern bin ich nicht völlig überrascht. Aber als ich dann auf dem Teller mit dem Steirerkrapfen die Käsebrösel separat serviert bekomme und sie im Urzustand sehe, läßt mich das dann doch etwas ins Staunen geraten. Aber dieses Staunen schlägt in Euphorie um, als ich die ersten Krümel über ein Krapfenstück gestreut habe und mir den Steirerkas-Geschmack buchstäblich auf der Zunge zergehen lasse: Mannomann, schmeckt das fantastisch! Ich zähle also ganz eindeutig zur ersteren Steirerkas-Spezies: Lieben. Auf keinen Fall lassen!
Marianne klärt mich auf: „Unser Ennstaler Steirerkas ist mager und fettfrei. Das bedeutet, dass man zum Essen wieder Fett zugeben muss. Wir essen ihn deswegen entweder mit Spätzle (oder Nockerln, wie wir sagen), den Steirerkrapfen oder aufs Butterbrot.“ Sie ist Sennerin und Hüttenwirtin mit Leib und Seele und verbringt nun schon seit 25 Jahren den Spätfrühling und den Sommer hier oben und hat ihre Ritzingerhütte, die seit eh und je im Familienbesitz ist, stets vom 1. Juni bis Ende September geöffnet.
Um sie herum grasen auf der seit 500 Jahren bewirtschafteten Viehbergalm 150 Stück Jungvieh der Gröbminger Bauern. Die geben keine Milch. Wohl aber die beiden, die Marianne mit herauf gebracht hat. Daraus macht sie selbst Käse und Butter, die auch für die Gäste auf den Tisch kommen. „Wir sind eine reine Almwirtschaft“, unterstreicht sie, die während ihres Almsommers sowohl Fernsehen als auch Internet strikt ablehnt: „Bei uns gibt es eben einfache traditionelle Speisen.“ Aber genau das ist es ja, das den Zauber ihrer Hütte ausmacht. Wer Zeit hat, sollte übrigens auch noch die herrlichen Käspressknödel probieren.
Hätten wir nicht noch rund die Hälfte unserer heutigen Mega-Etappe vor uns, wären wir sich der auch noch länger geblieben. Aber es hilft nichts: Die Sonne steht schon auf ihrem Zenith, wir müssen weiter.
ACHTUNG: Schon kurz nach der Viehbergalm gilt es, an einer markanten Kehre des Forstweges aufzupassen. Auf einigen GPX-Dateien verläuft unser Weg weiter auf der Schotterpiste. Das ist zwar nicht falsch, aber die wesentlich schönere Variante kann man erleben, wenn man hier der Beschilderung Richtung Hochmühleck folgt und auf einen steiler verlaufenden Pfad wechselt.
Ab hier wartet die einzig nennenswerte Steigung des Tages auf uns, aber wir sind begeistert von der Romantik des Waldes hier. Und so manch umgestürzter Baum, der dem Verfall trotzt, mutet mich geradezu wie ein Kunstwerk an.
Das heiß ersehnte Gipfelkreuz des Hochmühleck versteckt sich gut. „Man sieht es nur von Bad Mitterndorf aus“, hatte uns Marianne schon auf diese Geduldsprobe vorbereitet. Aber nach einer zackigen Steigung taucht es dann plötzlich doch auf.
Wir genießen den Blick zurück auf das Dachstein-Massiv mit seinen Felsen, Almen und Wäldern. Und da dies unser letzter Gipfel auf dem Weg durch diese fantastische Landschaft ist, muss natürlich ein Selfie einfach sein…
Von nun an geht’s bergab – und zwar wie! Das Hochmühleck liegt auf etwa 1730 Metern, Bad Mitterndorf auf gut 800. Für sich allein wäre das keine große Geschichte, aber uns stecken ja auch noch die rund 500 Meter Abstieg von der Stoderhütte bis zur Viehbergalm in den Knochen (respektive den Knien). Aber vielleicht macht gerade diese Aufteilung mit dem Anstieg dazwischen das Höhenprofil erträglicher. Es geht erstaunlich locker voran, und wir haben durchaus noch ein Auge für die Schönheiten, aber auch die Erinnerung daran, dass das Leben und Arbeiten in den Bergen beileibe nicht nur Idylle, sondern buchstäblich auch lebensgefährlich sein kann. Das macht mir schon damals das Marterl für den jungen Franz Stocker, der vor 114 Jahren beim Holzziehen verunglückte, bewusst. Und die schreckliche Nachricht von Bodos Verschwinden nach unserer Rückkehr natürlich erst recht.
Je näher wir unserem Ziel kommen, desto größer wird unsere Lust auf und später unser Verlangen nach einer Stärkung. Wir sehen die Wegweiser zur Steinitzenalm, die uns auch von Bodo und Marianne empfohlen worden ist. Doch o Schreck! Heute ist Mittwoch! Und damit dort Ruhetag. Da wir aber so viel Gutes über die Einkehr gehört haben, gebe ich den Tipp hier dennoch weiter.
Durch ein kurzes Päuschen bekommen wir dennoch die „dritte Luft“, kommen die letzten 200 Höhenmeter bergab flott voran und sind erstaunlich schnell im Talgrund. Und da ist es auch schon: das Ortsschild von Bad Mitterndorf!
Im Ortsteil Grubegg (etwa ein Kilometer südlich vom Zentrum entfernt) wandern wir an einem Skulpturenpark vorbei, für den wir aber leider keine Zeit mehr haben, weil es schon Abend wird.
Wir sind daher heilfroh, daß uns Heinz Seebacher, der Wirt und Gründer des Hotels Seebacherhof, in der Nähe der Grimming Therme im Ortsteil Neuhofen abholt, und uns in sein wunderbares Haus nach Tauplitz bringt. Er ist uns gleich sympathisch und erzählt uns mit viel Humor von seinem Leben und der Geschichte seines nun ein halbes Jahrhundert bestehenden Betriebes. Und man spürt, wieviel Herzblut der gelernte gemeinsam mit seiner Frau Gundi auch heute noch für sein Lebenswerk vergießt, das nun von beider Sohn Mario mit viel Engagement weitergeführt wird.
Auch dort im Hotel Seebacherhof ist heute Ruhetag – o je! Aber wir können schnell aufatmen: „Auf unserer Pfannerhütte ist heut Grillabend. Da bringt ich Euch natürlich rauf“, kündigt Heinz im selben Atemzug an. Also nur kurz unter die Dusche und dann das reichhaltige Büfett (in der Halbpension inkludiert) an einem lauen Sommerabend mit traumhaftem Grimming, dem Hausberg von Band Mitterndorf, genossen!
Und wie lautet heute Abend unser Fazit der vergangenen drei Etappen? Unsere Befürchtungen vom Morgen haben sich nicht bestätigt. Wir sind sogar im Zeitplan geblieben. Und diesmal hat sich die alte Wander-Weisheit vom dritten Tag nicht bewahrheitet. Überhaupt: Obwohl es manchmal schon anstrengend war – einen „schlimmsten Tag“ hat es nicht gegeben. Sondern nur wunderschöne, die ein paar Regenstunden Regentropfen nicht trüben konnten.
Über uns liegt die Tauplitzalm. Dorthin würde die vierte Etappe des Fernwanderwegs Vom Gletscher zum Wein führen. Hinein in den Nationalpark Gesäuse. Und angesichts dessen regt sich in uns die Sehnsucht: Können wir vielleicht dort nächstes Jahr weitermachen? Und ob dieser Frage juckt’s auch nach drei anstrengenden Tagen schon richtig in den Füßen…
Infos zur Etappe
ACHTUNG: Wer diese Fernwanderung gehen möchte, sollte sich vorhin unbedingt die GPX-Daten der jeweiligen Etappen herunterladen. Die Markierung zählt (vornehm ausgedrückt) nicht zu den allergrößten Stärken dieser wunderbaren Tour. Die Hinweise sind nur briefmarkengroß auf vorhandenen Wegweisern aufgeklebt und oft ausgebleicht, vom Regen unleserlich gemacht oder gar nicht vorhanden.
Die GPX-Daten zur Tour findet Ihr unter anderem hier.
Gegangen am 24. Juli 2024
Länge: 23 Kilometer
Höhenunterschied: 510 Meter auf, 1550 Meter ab
Start: 8.05 Uhr / Ziel: 18.45 Uhr
(Anmerkung: Unsere Zeiten unterscheiden sich von den im Internet und auf den Wegweisern angegebenen reinen Gehzeiten. Sie sollen darstellen, wie lange etwas ältere Wanderer mit 13-Kilo-Rucksack, die auch gern einmal rasten und die Schönheiten am Wegesrand betrachten oder sich mit anderen unterhalten, de facto – und nicht theoretisch – gebraucht haben).
Weitere: Informationen zur Region gibt es hier:
www.schladming-dachstein.at/de
Und hier der Blog zu unseren ersten beiden Etappen: