Eine tolle Ouvertüre war die erste Etappe des Fernwanderwegs Vom Gletscher zum Wein, der auf zwei Routen (eine im Norden, eine im Süden) durch die gesamte Steiermark führt.. Zusammen mit meiner Frau Christine und Arco, unserem treuen vierbeinigen Begleiter, konnten wir trotz einiger Zeit im Regen spüren, warum die Überschreitung vom Dachstein-Gletscher zum Guttenberghaus als eine der schönsten Touren in den Ostalpen gilt. Und daher freuen wir uns natürlich schon auf Etappe Nummer 2. Zumal der Wetterbericht für heute wesentlich bessere Bedingungen vorhersagt.

Zudem hat uns Günter Perhab, der schon legendäre Wirt des Guttenberghauses (er bringt es auf sage und schreibe 32 „Dienstjahre“ auf der mit 2146 Metern höchstgelegenen Alpenvereins-Hütte der Steiermark), mit vielen Informationen versorgt, die uns schon richtig Lust auf diesen Teilabschnitt machen.

Aber bevor es losgeht, muss natürlich das Abschiedsfoto sein. Denn wir haben in diesem Quartier der in Wien beheimateten Sektion Austria des Österreichischen Alpenvereins (des ältesten alpinen Vereins auf dem gesamten europäischen Festlands) wirklich sehr wohl gefühlt.

Abschiedsfoto am Guttenberghaus: Christine (2. von links) mit dem legendären Hüttenwirt Günter Perhab und seinen nepalesischen Team-Mitgliedern Pema und Mingma (von links).

Hier am Guttenberghaus teilen sich übrigens die beiden Routen vom Gletscher zum Wein. Die südliche führt über die Ramsau nach Rohrmoos bei Schladming. Aber wir nehmen Kurs Richtung Nord und müssen erstmal wieder zurück zum Feistersattel. Was tags zuvor die letzten 50 Höhenmeter nach unten waren, sind heute die ersten 50 nach oben. Auf dem Sattel wenden wir uns dann nach rechts und halten uns immer entlang des Sinabell. Auf der anderer Seite führen viele Klettersteige hoch zum Gipfel – und für die ist das Guttenberghaus (wie wir beim Frühstück mitbekommen) auch das ideale „Basislager“.

Blick zurück aufs Guttenberghaus.

Bald zeigt sich tief unter uns der erste See (in der zweiten Hälfte der Tour sollen noch zwei weitere folgen): Der türkisgrüne Silberkarsee liegt aber immerhin noch auf 1812 Metern. Baden in dieser Höhe ist daher nur etwas für die ganz Harten (also eventuell etwas für Christine). Aber ein Abstecher dorthin würde heute zu viel Zeit kosten. Seinen Namen erhielt der See übrigens daher, weil hier früher nach diesem Edelmetall gesucht wurde. Aber er hat auch noch einen anderen: Hölltallsee. Denn er befindet sich in einer Doline, einem Trichter im Karstgestein des Dachstein-Massivs. Manch einer dachte da früher wohl, hier befände sich der Eingang zur Unterwelt…

Auch Arco genießt den Blick auf den Silberkarsee…

Wir aber haben mit der Hölle nix zu tun. Für uns ist das hier oben eher das Paradies. Auch wenn es zunächst über Stock und (Geröll-)Stein geht. Doch das stört uns nicht. Für uns ist die Landschaft hier Genuss pur – zumal sich die Gipfel heute im Gegensatz zu gestern nicht im Nebel verhüllen, sondern sich in ihrer ganzen Pracht präsentieren.

Eher gemütlich geht es heute immer am Sinabell entlang über Geröll…

… und die Gipfel präsentieren sich in ihrer ganzen Pracht.

Immer anmutiger zeigt sich mittlerweile der Weg. Sanft führt er hinunter in die Almzone. Und dort stößt eine halb verwitterte provisorische Tafel auf dem Boden auf unsere Aufmerksamkeit: „Wildfrauen Löcher“ und „Frauenkreuz“ können wir entziffern. Und etwas kleiner drunter: „Urbeil 22“.

Eine verwitternde Tafel auf dem Boden erregt unsere Aufmerksamkeit.

Und da ist Christine natürlich regelrecht elektrisiert: „Urbeil“ – das steht doch für ihre Tiroler Künstlerkollegin Ursulas Beiler, die durch ihre „Grüß Göttin“-Installation sowohl provoziert als ach Berühmtheit erlangt hat und auch bei Christines Aktion „Marterl modern“ im Rahmen der Kulturzeit 2021 der Außerferner Kulturinitiative Huanza mit von der Partie war?! Und tatsächlich: Das „Frauenkreuz“ ist ein Relikt des LandArt-Projekts „Holz und Stein“, das 2022 hier auf der Grafenbergalm Station machte.  Und tatsächlich: Nach ein paar Metern stehen wird vor dem feministischen Kunstwerk von Ursula Beiler. Das ist durch Wind und Wetter zwar buchstäblich natur-gemäß etwas derangiert. Aber trägt zweifelsohne unverkennbar ihre Handschrift.

Ursula Beilers „Frauenkreuz“ trotzt Wind und Wetter.

Und dann erreichen wir unserer Zwischenziel. Auf der Grafenbergalm mag es vielleicht koa Sünd geben, aber einen höchst interessanten und auch bekannten Senn: den österreichischen Literaten Bodo Hell. Wie alt er ist? Mag er nicht sagen. Nur so viel: „Seit 1979 bin ich hier oben. Also jetzt den 46. Sommer.“ Wer denkt, er lege da in einer Art Dichterklause der besonderen Art Jahr und Jahr einfach gemütlich die Beine hoch, der ist gewaltig auf dem Holzweg. Stolze 1300 Hektar ist das Areal groß, auf dem zurzeit über 70 Stück Galtvieh (also Kühe, die noch keine Milch geben) weiden – mithin  rund viermal so groß wie der Central Park in New York, der freilich im Gegensatz zum Terrain in der Steiermark völlig eben ist.

Wenn Bodo, der für sein schriftstellerisches Schaffen mit über 20 Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum bedacht wurde, nach seinen vierbeinigen Schützlingen schaut, dann muss er oft erst einmal zwei Stunden bis zu ihnen laufen. Die „einzige grüne Insel in diesem riesigen Karstgebiet“ (so Bodo Hell) ist mithin im wahrsten Sinne des Wortes weit-läufig, verfügt aber auf der anderen Seite nur über drei Quellen. Religionsgeschichtliches Detail am Rande: Sie teilen sich die Bauern der Ramsau (mit ihrer evangelischen Mehrheit) und des katholischen Weißenbach seit alters her über Konfessionsgrenzen hinweg.

Apropos Grenzen: Über die Grafenbergalm verläuft auch die  Trennlinie zwischen der Steiermark und Oberösterreich. „Darum hat es früher ständig Streit zwischen dem Erzbischof von Salzburg, zu dessen Gebiet das Dekanat Haus im Ennstal gehörte, und dem Kaiser aus dem Hause Habsburg, der für sein Herzogtum Ob der Enns Ansprüche erhob, gegeben“, erzählt der „faktenorientierte Autor“ (wie er sich selbst bezeichnet). Und fügt lachend hinzu: „Erst neulich hat mich wieder einer drauf angesprochen, dass die Grenze um 200 Meter falsch markiert sei.“

Zum Schreiben kommt der gebürtige Salzburger, der die Winter im Kamptal verbringt, während seiner Alm-Sommer so gut wie nicht. Wohl aber zum Aufschreiben der Dinge, die ihn in dieser Zeit auf- und einfallen sowie inspirieren. Und diese Notizen verarbeitet er dann während seiner „Nicht-Sommer“ drunten in niedrigen Gefilden.. Auch für seine „Begabten Bäume“, von denen mittlerweile die dritte Auflage erschienen ist, sammelte er auf der Grafenbergalm wertvolle Gedanken. Nebenbei bemerkt: Den Grund-Impuls dazu erhielt er von der „Lappländischen Reise“ des schwedischen Naturforschers Carl von Linne, der 1732 die nördlichste Region des damaligen Schweden akribisch erkundet hatte. Und so verbindet Bodo auch in seinem hochinteressanten Buch Naturwissenschaft, Kulturgeschichte und Literatur auf überaus beeindruckende Art und Weise miteinander.

Während wir uns darüber unterhalten, gackern drei Hühner ebenso neugierig wie zutraulich um uns herum. „Die legen jeden Tag“, merkt Bodo voll sichtlichem Stolz an. Eine davon nähert sich sogar bis quasi auf „Pick-Distanz“ Arcos Nase. Aber beide nehmen es höchst gelassen. Alles verläuft total friedlich.

Senner, Autor und Tierfreund: Bodo Hell.

Mit Tieren kann es Bodo überhaupt ganz prima. Er lebt mit sechs Tauernschecken-Ziegen hier auf der Alm und sichert dadurch mit das Überleben einer extrem bedrohten weiß-schwarz-braun gefleckten Haustierrasse. Die Geißen liefern ihm die Grundlage für eine weitere große Leidenschaft des Autors: das Käsen. Vielleicht liegt seine Passion dafür  ja in einer alten Sage begründet, die sich um die Grafenbergalm rankt: Drei Sennerinnen hätten dabei von einem gefangen genommenen kleinen grünen Männlein das Geheimnis des Käsens erpresst, es danach aber mit ihrer Neugier viel zu weit getrieben…

Apropos Neugier: „Was kann man denn von Ziegen lernen?“, möchte ich gern wissen. Bodo muss eine Weile grübeln. Und sagt dann: „Sozialverhalten ganz sicher nicht. Jeden Tag gibt es eine Riesen-Streiterei wegen der Rangordnung.“

Schön ist es auf der Grafenbergalm. Aber letztlich hilft alles nichts: Wenn wir heute noch ankommen wollen, müssen wir weiter. Doch der Weg, der sich sanft durch die Latschen hindurch schlängelt, und die Türkenbund-Lilien am Rande des Pfades helfen mir, den Abschied zu verkraften. Mit dem Blick auf den Grafenbergsee, der auf 1682 Metern liegt, wartet eine weitere Idylle auf uns.

Auch dort unten weiden Kühe von der Grafenbergalm: der Grafenbergsee.

Doch damit nicht genug: Schon kurz danach präsentiert sich der Ahornsee in seiner ganzen Pracht. Der befindet sich quasi eine Etage tiefer als sein „Nachbar“ – nämlich „nur“ auf einer Höhe von 1483 Metern über der Adria (wie man in Österreich zu sagen pflegt). Doch warum es dort einen Schwiegermuttersprung gibt, vermochte ich (zumindest bisher) nicht in Erfahrung zu bringen.

Die Landschaft spiegelt sich im Wasser: der Ahornsee mit dem „Schwiegermuttersprung“.

Indes: Angesichts der herrlichen Landschaft hier lohnt es eh nicht, groß nachzugrübeln. Das Naturschutzgebiet Steirisches Dachsteinplateau schlägt mich nun nämlich in seinen Bann.Wir müssen immer wieder über umgestürzte Bäume steigen oder ihnen ausweichen – und so verwundert es uns keineswegs, daß dieser Forst hier auch Brandner Urwald genannt wird. Mir kommt beim geradezu meditativen Gehen in einer Höhe von rund 1600 Metern spontan der Ausdruck „Märchenwald“ in den Sinn. Und riesige Ameisenhaufen unter den Bäumen lassen uns zudem spüren, dass die Natur hier noch in guter Verfassung ist.

Riesige Ameisenhaufen in meinem „Märchenwald“.

Wie nah (oder fern) wir unserem heutigen Ziel sind, können wir ohne Landkarte nur erahnen. Zur Stoderhütte unterhalb des Stoderzinken sollen wir. Aber das steht auf den gelben Wegweisern nirgends. Nur die Brünnerhütte. Und an diesem herrlich gelegenen, aber unbewirtschafteten Haus stellen wir überrascht und begeistert zugleich fest: Wir sind ja gleich da! Der Kampf mit dem letzten Anstieg fällt uns daher ziemlich leicht.

Sie liegt wunderbar: die Brünnerhütte ist in Privatbesitz.

Oben an der Stoderhütte hat sich Wirtin Irmi bereits Sorgen um uns gemacht. Eigentlich hätte sie schon Feierabend, aber sie wartet trotzdem, bis wir endlich eintrudeln. Leider hat sie schon lange geschlossen, so daß sie uns nichts mehr zu essen machen kann. Und daher ist heute für uns Schmalhans Küchenmeister (denn auch im Gasthaus in der Nähe werden wir abgewiesen und dabei höchst unfreundlich behandelt).

Trotzdem schlafe ich in dem einfachen und sehr sauberen Quartier in der Stoderhütte ganz hervorragend – und das Frühstück am nächsten Morgen ist Extraklasse. Vor dem Einschlafen denke ich: Bei Bodo auf der Grafenbergalm war es einfach zu schön. Aber dafür habe ich den knurrenden Magen dann auch wiederum gerne in Kauf genommen.

Dennoch der Tipp an alle, die es uns gleichtun wollen: Wer abends noch was zu essen möchte, sollte nicht so trödeln wie wir…

Infos zur Etappe

ACHTUNG: Wer diese Fernwanderung gehen möchte, sollte sich vorhin unbedingt die GPX-Daten der jeweiligen Etappen herunterladen. Die Markierung zählt (vornehm ausgedrückt) nicht zu den allergrößten Stärken dieser wunderbaren Tour. Die Hinweise sind nur briefmarkengroß auf vorhandenen Wegweisern aufgeklebt und oft ausgebleicht, vom Regen unleserlich gemacht oder gar nicht vorhanden.

Die GPX-Daten zur Tour findet Ihr unter anderem hier (ACHTUNG: Die Einschätzung der Schwierigkeit – mittel – teile ich nicht, wir empfanden sie als schwierig)

Gegangen am 23. Juli 2024

Länge: 14 Kilometer
Höhenunterschied: 560 Meter auf, 840 Meter ab
Start: 9.40 Uhr / Ziel: 19 Uhr
(Anmerkung: Unsere Zeiten unterscheiden sich von den im Internet und auf den Wegweisern angegebenen reinen Gehzeiten. Sie sollen darstellen, wie lange etwas ältere Wanderer mit 13-Kilo-Rucksack, die auch gern einmal rasten und die Schönheiten am Wegesrand betrachten  oder sich mit anderen unterhalten, de facto – und nicht theoretisch – gebraucht haben).

Weitere: Informationen zur Region gibt es hier:

www.schladming-dachstein.at/de

www.steiermark.com

Und hier der Blog zu unserer ersten Etappe:

Vom Gletscher zum Wein (1): Dachsteingletscher – Guttenberghaus