Der Zauber des Morbiden – der hat uns in Agrigent(o) vom ersten Moment an fasziniert, als wir oben auf der Höhe ankamen und vorbei am antiken Stadttor die Altstadt betraten.
Griechen, Normannen, Spanier, Bourbonen – alle haben hier ihre Spuren hinterlassen. Doch dieser Mix wirkt überaus harmonisch auf uns. Und auch das Nebeneinander von pracht- und liebevoll restaurierten Palazzi und reichlich derangierten Häusern hat durchaus seinen Charme. Breite Straßen gibt es im Ortskern nicht, wir müssen uns durch ein Gewimmel von Gassen und Gäßchen zurechtfinden. Und ein Besuch der Altstadt bedeutet zugleich Intensivtraining für die Wadeln: Hunderte Treppenstufen gilt es von der Hauptstraße, der Via Atenea, und unserem Quartier nahe der Piazza Luigi Pirandello bis zum höchsten Punkt, der Cattedrale di San Gerlando, zu bewältigen.
Auf der Suche nach unserem Quartier kommen wir durch ein besonders schönes dieser „Treppen-Gäßchen“, die Scalinata degli Artisti. („Künstler-Treppchen“) in der Via Neve (Schneegasse) , die von der Via Atenea abzweigt. Christine hat Glück: Sie trifft ihren Künstler-Kollegen, der viele der jährlich wechselnden Wandgemälde hier gestaltet hat. Eine Art Freiluft-Galerie der gegenständlichen Kunst, und absolut einen Besuch (und den einen oder anderen Schnappschuss) wert.
Doch noch so manches Kleinod verbirgt sich in diesen kleinen Gäßchen. Zum Beispiel die Kirche Santa Maria dei Greci (in der gleichnamigen Straße), die um 1200 auf den Überresten eines antiken dorischen Tempels errichtet wurde. Sie war die Kathedrale der Christen, die den Gottesdienst nach dem griechisch-byzantinischen Ritus feierten – und damit vermutlich an die Gründung der Stadt durch Griechen (im Jahr 581 vor Christus) anknüpften. Die Römer kamen erst etwa 100 Jahre später im Zuge der Punischen Kriege gegen Hannibal hierher und latinisierten den Namen der Stadt von Akragas in Agrigentum (die Araber sollten später Girgenti sagen). Faszinierend ist der Blick durch den gläsernen Boden hinunter auf die Reste des griechischen Heiligtum (das Athene und Zeus geweiht war), und mich schlagen auch die uralten Fresken (eine meiner Leidenschaften) und überhaupt der gesamte Raumeindruck in den Bann.
Die Theorie, das auch die Kathedrale San Gerlando aus der „Epoca Sueva“ (der „schwäbischen Epoche“ – und diese Bezeichnung tut mir als in der Nähe der Stammburg der Hohenstaufen geborener Schwabe natürlich ganz besonders gut) ebenfalls auf den Resten eines Zeus-Tempels errichtet wurde, kursiert seit langen als Vermutung, doch bislang fanden die Archäologen keinerlei Beleg dafür. Hier endet die Pilgerwanderung auf der Magna Via Francigena (hier ein Bilderbogen voller Eindrücke), und mit dem Pilgerpass gibt es dort kostenlos Eintritt. Wir haben unseren zuhause vergessen, aber das tut der Faszination dieses Gebäudes keinerlei Abbruch.
Denn gottlob hat man (anders als im Dom von Palermo) die zahlreichen Veränderungen (so gut wie jede Epoche wollte der Kirche ihren Stempel aufdrücken), derer sich dieses Gotteshaus im Laufe eines Jahrtausends ausgesetzt sah, vor einem halben Jahrhundert wieder rückgängig gemacht. So staunen wir auf der kleinen Empore über dem Hauptportal nicht nur über die wieder hergestellte Raumatmosphäre aus der Gotik, sondern auch über die kunstvolle Holzdecke des Mittelschiffs, die 1518 (also kurz nachdem Martin Luther weit oben im Norden seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen hatte) angebracht wurde. Unzählige Malereien von Heiligen, Bischöfen und Adligen zieren sie – und den Mittelpunkt der Kassettendecke gleich nebenan im zweiten Abschnitt des Mittelschiffs bildet der Doppeladler des Hauses Habsburg. Denn als man sie (Ende des 17. Jahrhunderts) montierte, stellten die Habsburger die Könige von Spanien. Und zu deren Reich zählte in jenen Jahren auch Sizilien.
Mir sticht ein großes zeitgenössisches Porträt über den Eingang zu einer Seitenkapelle ins Auge. „Wer ist denn das?“, frage ich den freundlichen jungen Mann an der Eingangskontrolle. „Rosario Livantino“, antwortet er. Ich erinnere mich: Als wir auf unserer zweiten Etappe unserer diesjährigen Pilgerschaft auf der Magna Via Francigena das Städtchen Racalmuto verließen, gingen wir durch eine Straße auf die Höhe, die seinen Namen trug. Aber warum wurde dem Mann, der auf dem Bild keine Mönchskuppe und auch kein Priestergewand, sondern die Robe eines Juristen trägt, eine Kapelle in einer Bischofskirche gewidmet?
Das hat mit dem Kampf gegen die Mafia zu tun. Der wie ich 1952 geborene Rosario (sein zweiter Vorname: Angelo, also „Engel“) war tief in der katholischen Kirche verwurzelt. Beruflich arbeitete er ab 1977 als stellvertretender Staatsanwalt am Gericht von Agrigent – eine höchst brutale Zeit, geprägt von bestialischen Morden rivalisierender Clans. Er wußte, was ihm blühte, wenn er seinen Beruf ernst nahm, und begann oder schloss daher seine Akten stets mit dem Kürzel STD („sub tutela domini“/“unter Gottes Schutz“). Vor Arbeitsbeginn besuchte er immer die Heilige Messe. Und da er in der Provinz Agrigent aufgewachsen war, kannte er die Strukturen der lokalen Mafia, was seine akribisch geführten Ermittlungsakten eindrucksvoll dokumentieren.
Doch diese Furchtlosigkeit bedeutete zugleich sein Todesurteil. Nachdem die Einschüchterungs- und Bestechungsversuche der Mafia scheiterten, rammte am 21. September 1990 auf dem Weg zum Arbeitsplatz ein Auto seinen Wagen, er versuchte noch zu fliehen, doch die Mörder erschossen ihn. Rosario war sich der Gefahr, in der er schwebte, bewußt – und lehnte dennoch Personenschutz ab. Oder gerade deswegen. Seine Begründung lautete: „Andere Väter dürfen nicht meinetwegen um ihre Kinder trauern.“ Normalerweise wird das blutgetränkte Hemd, das er am Tag des Attentats trug, als Reliquie in der Seitenkapelle ausgestellt, denn Rosario Angelo Livatino wurde vor drei Jahren seliggesprochen. Aber während unseres Besuchs war es nicht da – sondern zu einer Ausstellung ausgeliehen.
Ein höchst beeindruckender Mann, an den ich seither immer wieder denken muß. Aber gottseidank ist Sizilien ja viel, viel mehr als die Mafia. Und so können wir auch den abendlichen Bummel durch das Gewimmel auf der Via Atenea genießen. Wobei Agrigent eine Besonderheit hat: Fast das ganze gastronomische Leben konzentriert sich in dieser einen Straße. Und vielleicht liegt es daran, daß die Preise deutlich höher sind als im Hinterland . Dort gab es jede Menge Antipasti (Vorspeisen) und Primi (Nudelgerichte, Gnocchi, Pizza oder ähnliches) unter 10 Euro, dort haben wir für 35 Euro oft jeder zwei Gänge gegessen sowie zusammen einen Liter Wasser sowie einen Mezzo di vino bianco (halben Liter Weißrwein) getrunken – aber hier herrscht in dieser Preisklasse absolute Fehlanzeige. Da geht’s bei 12, 15 Euro erst los. Und so bescheiden wir uns und gönnen uns im Ristorante Pititto nur je einen Gang: Christine Spaghetti a la Vigata (benannt nach dem fiktiven Ort, in dem Andrea Camilleris Roman-Kommissar Montalbano ermittelt) – also Nudeln mit Gemüse – und ich typische lokale Nudeln, die Trecce, mit Brokkoli und Speck. Sicher hervorragend, ganz klar. Aber auf den Wein verzichte ich heute.
Während die Gastronomie Agrigents eher hochpreisig ist, bekommen wir im April noch ein sehr günstiges Quartier: Die Sicily Dreams in einem alten (und wunderbar restaurierten) Hinterhof-Gebäude mitten im Zentrum machen ihrem Namen alle Ehre. Wir schlafen in einem traumhaft eingerichteten zweistöckigen Appartement ganz wunderbar.