Der Arlberg Trail zählt zu den jüngsten Fernwanderwegen in den Alpen. Er führt durch ein Gebiet, das vor allem dank des Skilaufens weltberühmt wurde. Doch wie sieht es dort im Sommer aus? Das wollten meine Frau Christine Schneider, unser Hund Arco und ich vor kurzem einmal live erkunden. Die erste Etappe von St. Anton in Tirol hinüber nach Stuben in Vorarlberg hat mich dabei begeistert. Und nun geht es weiter – über Flexenpass und Madlochjoch nach Lech.

Die erste Info, die man über Stuben erhält, ist ja gemeinhin, dass es sich um einen „1410 Meter hoch gelegenen Wintersportort“ handle. Und die Legenden (und auch Tatsachen), die sich mit der Herkunft des Namens befassen, haben ja auch eher mit der kalten Jahreszeit zu tun. In der dortigen Poststation soll sich im Mittelalter die letzte warme Stube befunden haben, in der Säumer, Fuhrleute und andere Reisende der Kälte zu entfliehen vermochten. In der ersten Urkunde, in der der Ort auftaucht, ist denn auch von „des Kaisers höchster Stuben“ die Rede. Das war 1330, und damals saß der Wittelsbacher Ludwig IV. auf dem Thron  des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

In die Sportgeschichte in Stuben auch dadurch eingegangen, dass der Gründer der ersten Skischule Österreichs, Hannes Schneider, von dort stammte – allerdings rief die der Pionier des Stemmbogens zur Wintersaison 1920/21 auf der anderen Seite des Arlbergs ins Leben: in St. Anton. Und da Luis Trenker seinen berühmten Film „Berge in Flammen“ wegen des ob der nach dem Ersten Weltkrieg erzwungenen Abtretung Südtirols schwierigen Verhältnisses zwischen Österreich und Italien nicht am Originalschauplatz in den Dolomiten realisieren konnte, wurden die spektakulären Szenen außer in den Kalkkögeln bei Innsbruck zum Teil auch in Stuben gedreht. Hier ein Eindruck davon:

Nun aber ist Sommer, und die Sonne strahlt einfach herrlich. Durch die malerische Hauptstraße, die erfreulicherweise für den Durchgangsverkehr gesperrt ist, verlassen wir das Dorf, in dem allerorten der Pioniere des Skilaufs gedacht wird. Vorbei an grünen Wiesen, auf denen gleich ein paar Pferde auf uns zugaloppieren (unter anderem ein prächtiger Apfelschimmel) kommen wir zum Fuß des Wasserfalls, über den sich der Flexenbach ebenso gewaltig wie romantisch zu Tal stürzt. Wir „schrauben“ uns indes in engen Kehren genau entgegengesetzt nach oben. Mit jeder Richtungsänderung gewinnen wir dadurch auf eine sanfte Art an Höhe. Meine Vermutung bewahrheitet sich: Das ist der alte Saumpfad hinauf zum Flexenpass, der erst ein paar Tage zuvor ausgemäht worden sein muss – ein absolutes Qualitätsmerkmal für den Arlberg Trail. Toll!

Da geht’s hinauf zum Flexenpass…

An einer markanten Kurve fällt der Blick auf eine heute nur noch schwer zu lesende Gedenktafel. Auf ihr wird an Franz Josef Mathis erinnert, der am 21. Dezember 1886 hier am Kurzkehrtobel von einer Lawine verschüttet wurde. Er hatte unglaubliches Glück: Nach 30 Stunden konnte der „Lawinen-Franz“, wie man ihn später nannte, noch lebend geborgen werden. Erst 51 Jahre später sollte er das Zeitliche segnen. Weniger Glück hatte fünf Jahre später ebenfalls zur Weihnachtszeit der Lecher Landwirt Josef Anton Walch: Ihn vermochte man nicht mehr zu retten. Es waren nicht die einzigen Unfälle dieser Art an dieser Stelle, und so entschloss man sich, den Saumpfad durch eine neue Straße zu ersetzen. Was da zwischen 1895 und 1897 unter schweierigsten Bedingungen (selbst im Winter wurde gearbeitet) entstand, verlangt einem heute noch höchsten Respekt ab: ein wahres Wunderwerk des Straßenbaus.

Links der alte Saumpfad, rechts die (relativ) neue Straße: der Flexenpass ist eine uralte Verbindung.

Oben angekommen sind wir begeistert von der lieblichen Hochebene am Flexenpass, zumal der Wanderweg uns schnell von der (aus unserer Sicht leider) bei Motorradfahrern so beliebten B 198 führt. Die kleinen Bächlein, die links von der Hasenfluh und rechts von Rogg- und Erlispitze herunterrinnen, müssen sich nun entscheiden, ob sie lieber ins Schwarze Meer (über Zürser Bach, Lech und Donau) oder in die Nordsee (über Flexenbach, Alfenz, Ill und Rhein) wollen. Hier am Flexenpass ist nämlich eine europäische Wasserscheide.

Der Flexenpass ist eine europäische Wasserscheide.

In Windeseile sind wir in Zürs. Viele prächtige Hotels – und dennoch werde ich an den Lockdown-Hit der Rolling Stones erinnert: „Livin‘ in a ghost town!“ Allein das Hotel Enzian hat geöffnet (und das, wie uns Einheimische sagen, überhaupt das erste Mal in der warmen Jahreszeit). Der Sommer scheint hier trotz der einfach wunderbaren Bergwelt ringsum gar nicht zu existieren, und die Sportläden machen sich gar nicht die Mühe, ihre Schaufenster umzudekorieren, geschweige denn ihre Pforten zu öffnen. Und geworben wir hinter den Glasfassaden mit der glorreichen Vergangenheit mit Skihaserln und Pistenhelden in Keilhosen. Wir durchqueren das ganze Dorf, und im Grunde tut es einem in der Seele weh, dass diese ganzen Hotels trotz der fantastischen Natur und wunderschönen Wanderwege ringsum den Großteil des Jahres verwaist sind.

In eine wunderbare Landschaft eingebettet, aber im Sommer (fast) verlassen: Zürs am Arlberg.

Zu Kaiser Franz Josephs Zeiten hatten die Besitzer der „Alpenrose“ übrigens vom Land Vorarlberg 200 Gulden pro Jahr dafür erhalten, dass sie ihr Haus zwölf Monate hinweg offen hielten. Aber die ganze Ortsgeschichte hindurch dominierte eindeutig der Winter: 1937 wurde der erste Schlepplift Österreichs dort gebaut. Und Geza von Cziffra drehte im Winter 1959 dort auch seine Komödie „Peter schießt den Vogel ab“ mit Peter Alexander in der Hauptrolle vor tief verschneiter Kulisse (Detail im Rande: Im Fernsehen war diese Schmonzette 1963 zum ersten Mal zu sehen – in der DDR). Hier ein Eindruck davon:

Trotz der „toten Hose“ ringsum läuft die Seekopfbahn hinauf zum Zürser See. Und den Sessellift nehmen wir gerne in Anspruch, denn das ist ja der große Vorteil des Arlberg Trails: Jeden Tag nimmt einem eine andere Bergbahn Hunderte von Höhenmetern ab. Exakt 514 sind es in diesem Fall. Während der gut fünf Minuten Fahrt staunen wir: Die Wiesen sind überfüllt mit Arnika. Das (Vor)Urteil, daß Skipisten in jedem Fall schlecht für die Umwelt sind, stimmt also in diesem Fall nicht.

Viel Grün, aber auch viel Gelb: Die Wiesen an der Seekopfbahn sind voll der Heilpflanze Arnika.

Oben am Zürser See auf gut 2100 ist Christine ganz mutig und stürzt sich in die auf 2140 Meter Höhe doch ziemlich kalten Fluten. Ob es an dieser Erfrischung lag oder nicht: Wie beflügelt machen wir uns auf den Trittpfad hinauf zum Madlochjoch und staunen auch hier – auf fast 2300 Metern wandern wir hier am Madloch durch ein Hochmoor voller Wollgras.

Im Hochmoor am Madloch gedeiht das Wollgras.

Während der letzten Schotter-Meter hinauf zum Joch kann sich schon Vorfreude breit machen, aber die Aussicht hier auf 2450 Metern hinein ins Lechquellengebirge übertrifft alle Erwartungen: Gleich hinter dem nächsten Höhenzug, dem Schafberg,  entspringt in der Nähe des Formarinsees der Lech, der „letzte Wilde“ (Bergfluss) der Nordalpen, wie es in der Werbung des Naturparks Tiroler Lech so schön heißt.  Und es ist vielleicht gar keine so schlechte Idee, wenn man genügend Zeit hat, an die drei Etappen des Arlberg Trails  noch die sieben des Lechwegs  von Lech bis Füssen anzuhängen. Denn dann hat sich die Anreise auf jeden Fall gelohnt.

Von nun an geht’s bergab. Und zwar auch über eine Skipiste. Aber die wird nicht künstlich beschneit. Und hat daher auch auch keine ökologischen Wunden geschlagen. Die Blumenpracht (inclusive Alpenrosen) ist auch hier fantastisch.

Da müssen wir runter: Der Blick vom Madlochjoch Richtung Gstütalpe – und hinter dem Höhenzug links entspringt der Lech.

Ich freilich bin zu leichtsinnig mit meinem Wasservorrat umgegangen. Ein Liter war an diesem heißen Tag einfach zu wenig, und die habe ich vor der Zeit „verjuxt“. Die Zunge klebt mir am Gaumen, und ich bin heilfroh, daß mich auf der Gstütalpe eine entgegenkommende Einheimische beruhigt: „Bald kommt ein Brunnen, da kannst Wasser schöpfen!“ Sie hat nicht zu viel versprochen, und ich kippe das erfrischende und erlösende Nass gleich wieder literweise in mich hinein. Dehydrierung droht jetzt nicht mehr. Aber daher der dringende Rat an alle, die es uns nachtun werden (zumal in einem solch heißen Sommer wie diesem): Unbedingt genügend zum Trinken mitnehmen.

Das heutige Ziel ist in Sicht: Lech am Arlberg!

Dann ist man auf jeden Fall gefeit über die letzte Stunde hinunter zum Ziel dieser Etappe, kommt rechtzeitig an und kann dann noch durch Lech schlendern: einem Ort, der bei aller Berühmtheit rund um den Globus, zurecht stolz auf seine Identität als Walserdorf ist, die sich nicht zuletzt in der St. Nikolaus (dem Schutzpatron der Walser) geweihten Pfarrkirche und im Museum im Huber-Hus widerspiegelt. Dass Lech 2004 beim Wettbewerb Entente Florale zum  „schönsten Dorf Europas“ gekürt wurde, verwundert einen nach diesem Spaziergang kein bißchen.

Strecken-Stenogramm

Länge: 13 Kilometer
Aufstieg: 675 Meter
Abstieg: 1150 Meter
Dauer: 5 Stunden reine Gehzeit (aber mehr Zeit einplanen, zu viel Schönes wartet!)

Informationen zur gesamten Wanderung findet Ihr hier.

Wissenswertes zu den Gemeinden entlang der Strecke gibt es hier: St. AntonStubenLech/Zürs.

Ihr wollt wissen, wie die erste Etappe des Arlberg Trail war? Bitteschön!:

Der Arlberg Trail (1): St. Anton – Stuben