Der Arlberg: das Ski-Eldorado schlechthin. Aber wie sieht das im Sommer aus? Eignet sich die Region auch fürs Wandern? Das wollten meine Frau Christine Schneider und ich Mitte Juli einmal live vor Ort ergründen. Auf dem Arlberg Trail, der im vergangenen Jahr (also 2021) ins Leben gerufen wurde. Los ging’s in St. Anton, dem Ort der alpinen Ski-WM 2001, das sich selbst als „Wiege des alpinen Skisports“ sieht.

Einige der Anlagen, die für die Wintersportler errichtet wurden, kommen nun auch den Wanderern zugute. Denn zu den großen Pluspunkten des Arlberg Trail gehört es zweifelsohne, daß man sich so manchen Höhenmeter zu ersparen vermag. Doch passionierte Bergfexe brauchen keine Angst zu haben: Höhenmeter kann man in dieser herrlichen Landschaft an der Grenze zwischen Vorarlberg und Tirol immer noch genügend sammeln. Und die Wadln werden auch so gefordert.

„Aufstiegshilfe“ – dieses Wort passt zu Beginn des Arlberg Trails für die Galzigbahn haargenau. In nicht mal zehn Minuten überwindet man 766 Höhenmeter, und die vom Wiener Architekten Georg Driendl konzipierte Talstation mit ihrer abends beleuchteten Glasfassade, die den Blick auf die Technik freigibt, ist fast zu einem Wahrzeichen des Ortes geworden. Schon während der Fahrt auf 2086 Meter Höhe kann sich Vorfreude breit machen, denn der Blick auf die Bergwelt ringsum (Lechtaler Alpen, Verwall, Lechquellengebirge) ist einfach grandios.

Start zur ersten Etappe: an der Bergstation der Galzigbahn hoch über St. Anton geht’s los.

Oben angekommen vermag man die Baustelle des neuen Bergrestaurants schnell hinter sich zu lassen, ein paar Kehren auf der breiten Piste der Erschließungsstraße – und schon geht’s weg vom Asphalt auf einen schmalen Pfad. Man kann durch „Latschen latschen“. Und dabei staunen: Direkt am Wegesrand wächst der Purpur-Enzian! „So rot, rot, rot blüht der Enzian“, müßte Heino hier also eigentlich singen. Den Anblick sollte man auf jeden Fall genießen, denn die Pflanze gilt im nahen Deutschland als „extrem selten“ und in Österreich immerhin als „potentiell gefährdet“.

Botanische Rarität direkt am Wegesrand: der Purpur-Enzian.

Unser Steig senkt sich in angenehmen Serpentinen immer weiter hinab Richtung Maiensee – und da können wir einfach nicht widerstehen, halten unsere Angst vor der Kälte im Zaum und wagen uns hinein in den idyllischen Teich. Brrr! Aber zugleich: Wow! Freilich: Gäbe es Piranhas am Arlberg, so wäre wohl in Windeseile mein halbes Hinterteil weg – die kleinen Fischlein dort knabbern auf jeden Fall sofort an einem herum. Aber das ist wahrlich auszuhalten.

Hurra, ich hab’s gewagt: ein Bad im idyllischen Maiensee.

Quasi direkt daneben wartet ein kultur- wie religionsgeschichtlich bedeutender Punkt auf einen: Höher als die 1860 Meter hier am Maiensee geht’s auf dem gesamten Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela nimmer. Wer mithin vom Arlberg Trail noch nicht genug hat, der kann anschließend von hier aus nochmal 2130 Kilometer bis zum wohl berühmtesten Pilgerziel der Christen Europas unter die Füße nehmen. Buon camino!

Bei St. Christoph kreuzt der Arlberg Trail den Jakobsweg.

Aber nicht nur Pilger benutzten seit alters her diese Verbindung zwischen Stanzer- und Klostertal. Archäologen konnten anhand von Scherben nachweisen, dass dort wohl schon vor 5000 Jahren Menschen unterwegs waren. Im Mittelalter erlebte dann der Reise- und Warenverkehr auf dieser Route einen regelrechten Boom. Aber das war keine ungefährliche Sache: Naturgewalten bedrohten die Säumer, Pilger und Reisenden ebenso wie wilde Tiere. Und so fasste Ende des 14. Jahrhunderts der geheimnisumwitterte Heinrich Findelkind (der als Baby von seiner Mutter ausgesetzt und vom Verwalter der Güter des Fürststifts Kempten aufgenommen und großgezogen wurde) den Entschluss, hier in der Nähe der Passhöhe ein Hospiz zum Schutz derer zu bauen, die hier aus den verschiedensten Gründen unterwegs waren. 1386 setzte er das Vorhaben mit Hilfe von ein paar Mitstreitern in die Tat um – die Unterstützung aus den Dörfern in der Nähe soll sich in eher engen Grenzen gehalten haben. Elf Jahre später erlaubte Papst Bonifaz IX. ihm den Bau der bis heute erhaltenen Kapelle, die Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden, geweiht wurde.

Der Arlberg ist ein Jahrtausende alter Saumpfad.

Ob es Heinrich war, der auch die Bruderschaft St. Christoph gründete – darüber streiten sich die Gelehrten.  Tatsache aber ist, dass diese „Vereinigung christlicher Nächstenliebe“ Mitte des 20. Jahrhunderts wieder neu ins Leben gerufen wurde, nachdem sie lange fast in Vergessenheit geraten war, zunächst die Kinder von beim Bau des Arlberg-Straßentunnels tödlich verunglückten Bauarbeitern unterstützte und ihnen eine Berufsausbildung ermöglichte sowie sich heute kleinen und großen Menschen widmet, die unverschuldet in Not geraten sind – auch mit der Unterstützung prominenter Mitglieder (wie der früheren niederländischen Königin Beatrix oder ihrem spanischen „Ex-Kollegen“ Juan Carlos). Die primitive Notunterkunft Heimnrich Findelkinds hat sich nämlich im Laufe der Jahrhunderte in ein Fünf-Sterne-Hotel verwandelt – und viele der Gäste aus aller Welt unterstützen gerne diese wohltätige Idee.

Kurz vor der Arlberg-Passhöhe können wir dann dem Lärm der Motoren von Bikes und hochgetunten Autos, die gerne über diese Straße brettern, entfliehen und schon nach ein paar Höhenmetern auf dem Berggeistweg in Bergidylle pur eintauchen. Wir wandern durch ein wunderbares Hochmoor an den Albonaseen (genau darunter verläuft übrigens der Arlberg-Straßentunnel) und schreiten kurz darauf buchstäblich auf dem Grund des Reichtums des alten Tirol: Eisenerz. Kein Wunder, denn hier befindet man sich in einem ehemaligen Bergbaugebiet. Das darf man sich nicht falsch vorstellen: Vor Jahrhunderten grub man nicht Schächte in den Berg, sondern sammelte das auf, was an der Oberfläche herumlag und einen ausreichenden Anteil an Erz versprach – und eine Ahnung davon kann man auch bekommen, wenn man auf dem Arlberg Trail über diese Steine hier „hinweggeht“.

Hochmoor und einstiges Bergbaugebiet (die rote Färbung der Steine erinnert an die Eisenerzgewinnung) an den Albonaseen.

„Eine Etage höher“ begegnet einem auf rund 2200 Metern Almidylle pur – nicht ohne Grund heißt die Gegend hier „Milchboden“. Wie die Kühe dort vor einem wunderbaren Bergpanorama stehen oder wiederkäuend im Gras liegen – das schaut wie auf einem kitschigen Landschaftsgemälde der 50er-Jahre aus. Aber hier passt es schlicht und einfach.

Kein Kitschgemälde, sondern pure Realität: die Kuh vor dem Patteriol.

So kommen wir fast unmerklich auf den Höhenweg unterhalb von Wirt, Peischel- und Knödelkopf (wie die um die 2400 Meter hohen Gipfel hier heißen). Und sind überwältigt vom herrlichen Blick auf den Verwall, wo der mächtige Patteriol dominiert. Aber auch der fast 2900 Meter hohe Kaltenberg mit einem letzten Hauch von Gletscher schlägt einen in den Bann.

Von der Steigung her haben wir hier oben nun den Löwenanteil geschafft und so wird das sanfte Auf und Ab in diesen Gefilden dank der prächtigen Szenerie zum schieren Genuss. Noch eine kurze Rast mit Jause am idyllischen See am Maroijöchle, und dann haben wir am Albonasattel in der Nähe der Bergstation der Albonabahn II mit fast 2400 Metern den höchsten Punkt dieser ersten Etappe erreicht. Wir sehen Stuben, unser Ziel quasi schon zum Greifen nah. Aber so schnell geht es auch wieder nicht…

Zünftige Jause am Mariojöchle.

Auf uns wartet zunächst ein wunderschöner Wiesenweg, der immer wieder von mächtigen Blocksteinen unterbrochen ist. Aber kein Problem: Nach rund eineinhalb Kilometern sind wir an der Kaltenberghütte.  Sie wurde 1928 von der Sektion Reutlingen des Deutschen und Österreichischen  Alpenvereins erbaut – zunächst nur für den Winterbetrieb übrigens. Nun haben sich die Dinge gedreht: Der Betrieb in der kalten Jahreszeit wurde unwirtschaftlich, die letzte Wintersaison endete 1991, seither ist nur noch sommers geöffnet. Freundlich grüßt uns der Wirt, die Gäste auf der schönen Terrasse fühlen sich offensichtlich wohl, aber wir waren von der Landschaft bislang so begeistert, dass wir uns glatt vertrödelt haben und auf eine Stärkung verzichten und weiter müssen. Schließlich warten noch rund 700 Höhenmeter Abstieg auf uns.

Falls Zeit vorhanden: Die Kaltenberghütte lohnt eine Rast vor dem Kräfte zehrenden Abstieg.

In der ersten Dreiviertelstunde des Weges hinunter machen wir gerade mal 100 Höhenmeter gut. Der Pfad verläuft nämlich stetig fast parallel zu unserem Hinweg auf der Höhe – nur eben in die andere Richtung. Ein Weidezaun will partout nicht aufhören, so daß wir uns immer wieder fragen, ob das denn noch sein kann oder wir uns verirrt haben. Aber das weiße A, unser Wanderzeichen, sagt uns immer wieder: Es kann sein!

Unser Wanderzeichen: das stilisierte A (wie Arlberg).

Und nachdem wir an der Stubigeralpe im Stubener Skigebiet angekommen sind, werden unsere Wadln und Knie gewaltig gefordert: Auf einer (allerdings mit hohem Gras bewachsenen und daher das Landschaftsbild kaum beeinträchtigenden) Skipiste geht es fast in der Direttissima nach unten, und so mancher (inclusive mir) dürfte froh sein, wenn er drunten in Stuben wieder ebenen Boden unter den Füßen spürt. Aber es ist eine wohlige Erschöpfung, die uns da nach einem wunderschönen Tag überfällt. Und wir freuen uns schon auf die nächste Etappe.

Das Kirchlein von Stuben zeigt uns: Wir sind am Ziel!

Strecken-Stenogramm

Länge: 15 Kilometer
Aufstieg: 675 Meter
Abstieg: 1350 Meter
Dauer: 7 Stunden reine Gehzeit (aber mehr Zeit einplanen, zuviel Schönes wartet!)

Informationen zur gesamten Wanderung findet Ihr hier.

Wissenswertes zu den Gemeinden entlang der Strecke gibt es hier: St. Anton, Stuben, Lech/Zürs.