Ganz ehrlich gesagt: Das Pilgern ist keine abgeschottete heile Welt, und manchmal drückt nicht nur auf den Schultern ein Rucksack, sondern auch in der Seele. Aber auf der anderen Seite kann es einen auch spüren lassen, dass es auch noch andere Dinge jenseits des Dunkels gibt. Heute ist der 13. März 2022. Ein Sonntag. Gleichbedeutend mit: Der Bäcker in Aljucen macht erst um 10 Uhr auf. Und den brauchen wir, denn heute geht es auf der sechsten Etappe unserer Via de la Plata durch menschenleeres Gebiet. Da wir sonst keinerlei Vorrat „gebunkert“ haben, kommen wir recht spät weg. Was mich zunächst nicht groß stört, da ich mir aufgrund meines Handy-Malheurs (Ladekabel gerissen/siehe Etappe 5) eine falsche Vorstellung von der heutigen Etappe mache und sie (wie sich herausstellen soll) für fünf Kilometer kürzer als in der Realität halte.
Ich gehe mit einem schweren Rucksack los – nicht nur auf dem Buckel (der ist trotz allem leicht zu tragen), sondern auch in der Seele. Daß viele Facebook-Poster (und die, auf die sie sich berufen) versuchen, brutale Gewalt im Osten Europas als „verständlich“ und durch die Ukraine „im Grunde provoziert darzustellen und sogar auf Resonanz in der linken und rechten Szene zugleich stoßen (was mich fatal an die Endphase der Weimarer Republik erinnert), das lastet schwer auf mir, und ich fühle mich hilflos. Und ich werde wütend, daß so viele mittlerweile etwas schon allein deswegen für wahr halten, weil es das Gegenteil von dem ist, was die meisten Politiker, die 145:5-Mehrheit in der UNO oder „die Medien“ (vulgo: „die Lügenpresse“) behaupten. Daß ich so was noch erleben muß…
Der „Gamechanger“ für den heutigen Tag ist jedoch die Landschaft, die nach etwa zwei Kilometern geradezu darauf zu warten scheint, mein Herz zu erfreuen und meiner Seele wieder Flügel zu verleihen: Der Naturpark Cornalvo verändert meine Stimmung schon nach ein paar Hundert Metern nach einer alten Römerbrücke radikal. Im wahrsten Sinne des Wortes: von der Wurzel her, ganz tiefgehend.
Die Wiesen grünen, und auf ihnen halten große Felsblöcke seit uralter Zeit die Stellung. Sie erinnern mich an die Menhire von Irland. Steineichen recken sich genauso wie ich der Sonne entgegen, und ich kann nicht anders, als das Zwiebelprinzip umgekehrt anzuwenden und nacheinander Anorak, Sweatshirt, Flanellhemd und Langarm-T-Shirt auszuziehen. Mein gelbes Leiberl mit der Aufschrift „Freiraum“ reicht völlig und paßt auch zu diesem Tag und zur jetzigen Stimmung. Endlich wieder aufatmen!
Christine macht Yoga, und ich verwandle mich in Walther von der Vogelweide: „Ich sitz auf einem Steine und denke Bein mit Beine, darauf ich in die Hand gesmogen das Kinn und ein min Wange, und denke mir viel Ange.“ Aber Ange (Enge, Angst) ist es jetzt gottlob nicht (mehr), die mein Herz erfüllt, sondern pure Freude.
Die Zeit verfliegt, und ich verliere jegliches Gespür dafür, da mittlerweile nicht nur mein Handy, sondern auch meine Uhr ausgestiegen ist und ihren Dienst eingestellt hat. Es stört mich aber nicht, ja es fällt mir nicht einmal auf, weil das Wandererlebnis so intensiv ist.
Ich bewundere die alten Bäume, die keine Blätter mehr haben und statt dessen würdevoll weiße Flechten tragen – so wie Menschen, die dankbar auf ihr Leben zurückblicken, ihr graues oder weißes Haar. Welche Schönheit doch auch im Vergehen liegen kann! Das freut mich und stärkt mich, der ich in meinem Leben nicht mehr allzu viele Frühlinge erleben werde (an der Biologie führt nun mal kein Weg vorbei) – ja, und es macht mich auch dankbar: Wie viel Schönes durfte ich doch bislang erleben, wie viel Sonne schien mir doch ins Herz – und wie viel Schönes darf ich doch immer noch erleben, und wie viel Sonne erreicht doch immer noch mein Innerstes!
Ich schwebe jetzt quasi durch die (Tages)Zeit und werde erst jäh auf den Boden der Minuten und Stunden zurückgeholt, als ich mir eine Infosäule an einem kleinen Bächle genauer ansehe. Die Kartenskizze dort erweckt den Eindruck, als hätte ich in meiner Zeitlosigkeit die Abzweigung zu unserem heutigen Quartier in Alcuescar verpasst, aber ein Blick auf Christines Handy mit Google Maps, das noch funktionsfähig ist, und vor allem Raimund Joos‘ tollen Wanderführer zeigt: Wir haben kurz vor nachmittags um 3 Uhr nicht mal die Hälfte unserer Strecke, sondern erst acht von 20 Kilometern geschafft!
Nun beginnt also wieder etwas, das ich gar nicht mag: ein Wettlauf gegen die Uhr, und das mit vollem Marschgepäck. Wir hangeln uns quasi von Fixpunkt zu Fixpunkt: von der ersten Höhe zum romantischen Steinkreuz von San Juan, von dort zu einer Senke mit einem (im Moment trocken gefallenen) Bach, von da zu den Bauernhöfen auf der Höhe, von hier zur letzten Wegscheide vor dem Dorf, die uns zur Kirche von Alcuescar und dann zum Quartier bei Maria im Casa Grande de Extremadura lotst. Sie ist selbst eine Künstlerin und schenkt uns gleich zum Zeichen der Verbundenheit und Sympathie eine von ihr selbst bemalte kleine Muschel.
Dieser Bau aus dem Jahre 1890 mit offenkundig adliger Vergangenheit macht seinem Namen alle Ehre. Wir haben ein geräumiges Appartement unter einem herrlichen Gewölbe, und nach einigen Irrgängen durch das nächtliche Dorf erreichen wir mit Manuela und Torsten („ohne H“), die dasselbe Tagesziel hatten, dann doch noch die Bodega del Chato. Ich freue mich, daß ich die Essensbestellung immer besser auf Spanisch hinkriege, die Wirtin fragt, ob sie die Croquetas, den Salat, die Hühnerflügel und die Bratkartoffeln für jeden separat oder zum Teilen auf den Tisch bringen soll. Wir sind mittlerweile eine Pilgergemeinschaft zu viert geworden, also entscheiden wir uns für letzteres – und verbringen einmal mehr einen wundervollen Abend. Und ich danach eine Nacht ohne seelischen Rucksack.
erlebt am 13. März 2022
notiert am 14. März 2022
Statistik:
Länge: 20 km
Dauer: 8 Stunden
Ein anderer toller Blog ist von Werner Kräutler.
Auch in Facebook findet sich eine sehr hilfreiche Gruppe.
Informationen zur Extremadura gibt es hier.
Die vorigen Etappen findet Ihr hier:
Via de la Plata 2022 (3): Villafranca de los Barros – Torremejía