Es ist der letzte Tag im Februar – und am Morgen noch still in Saintes Maries de la Mer. Die meisten Restaurants haben noch zu, der Campingplatz gottlob geöffnet, aber viele der Franzosen, Holländer und Deutschen, die mit uns hier Station machen, sind wohl wie wir nur auf der Durchreise nach Spanien oder gar Portugal. Aber gerade, daß es jetzt so ruhig ist, macht für mich den Reiz dieses Zwischenstopps aus.
Schon gestern, als wir mit unserem tollen Ford Transit Euroline durch die Weite der Camargue aufs Meer hin zurollten, haben mich die berühmten weißen Pferde auf den Wiesen und die rosa Flamingos in den flachen Teichen begeistert – wie schon damals als Kind, als ich das alles nur aus den Schwarz-Weiß-Filmen in den noch jungen Jahren des Fernsehens kannte. Erst jetzt im Rentenalter habe ich das tatsächlich und buchstäblich direkt vor Augen.
Unser weitläufiger Campingplatz La Brise macht seinem Namen alle Ehre – es weht eine ganz schön steife Brise, als ich am späten Nachmittag mit der aktuellen Kapellengeschichte für die Außerferner RUNDSCHAU, die ich am Campingtisch geschrieben habe, fertig bin. Unsere Käspressknödelsuppe (ein Highlight aus Christines Küche und Gruß aus der Heimat) müssen wir daher schnell verzehren und uns dann im Eiltempo in unser Domizil auf vier Rädern verziehen.
Auch am nächsten Morgen ist es noch so frisch, daß wir lieber in einer Bäckerei als vor unserem Autole auf dem Campingplatz frühstücken und auf dem Weg dorthin durch das noch weitgehend im Winterschlaf vor sich hindämmernde Dorf schlendern. In dessen Zentrum sind die Gassen noch eng und die Häuser noch alt. Und in einem Quartier wähnen wir uns schon in Spanien: Die Hauswände sind mit Flamenco-Motiven bemalt, es gibt Tapas-Bars, wo man Sangria ausschenkt, überall hängen Stierkampf-Plakate und Salsa-Musik klingt über den Place de Remparts.
Auch in der Kirche Notre Dame de la Mer herrscht noch Stille, als wir dort hineingehen. Das Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert hat eine ganz eigene Atmosphäre. Französisch kann ich ja nur radebrechend, so halt, dass es reicht, um in der Bäckerei zwei Cafe au lait und zwei Croissants zu bestellen, aber schon auf den Wegweisern ist mir in den Sinn gekommen, dass es sich bei den Saintes Maries ja wohl um eine Mehrzahlform handeln müsste. Und so ist es auch – hier werden gleich drei Maries verehrt: María Salome von Galiläa, María des Kleophas und sogar María Magdalena (die angebliche oder tatsächliche Geliebte Jesu) höchstpersönlich sollen hier um das Jahr 42 mit einem Schiff ohne Segel gestrandet und die Camargue und die Provence missioniert haben.
Als Protestant hat man natürlich so seine Schwierigkeiten mit dieser Art der Heiligenverehrung. Aber aufdrehen anderen Seite sind das Boot mit María Salome und María des Kleophas, das jeden Sommer hinunter zum Meer getragen wird, sowie die beiden uralten „heiligen Koffer“, die unter der Decke hängen und dreimal pro Jahr zur Verehrung in die Kirche herabgelassen werden, schon faszinierend.
Und die vielen Votivtafeln, die schon über Jahrhunderte hinweg von der Rettung aus allerlei Gefahren (hier am Meer speziell der Seenot), zahlreichen Unglücksfällen (wie Stürze vom Dach oder vom Pferd) oder Krankheiten jeglicher Art erzählen, rühren einen einfach an – auch wenn man nicht an diese Art von Wunder zu glauben vermag. Auf jeden Fall haben hier unzählige Menschen ihre Verzweiflung artikuliert und ihre ganze (oft letzte) Hoffnung in die drei Marien gesetzt. Kein Grund also, sich darüber lustig zu machen oder sich zu erheben.
Der erhöhte Chor aus der Zeit der Romanik spricht aber auch mich als „Lutherischen“ an. Hier kann man in die Stille eintauchen und mit seinem Schöpfer Zwiesprache halten. Mir kommt da wieder der Konfirmandenunterricht in den Sinn: „Das Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott.“ Die uralten Säulen mit ihren herrlichen Kapitelen bieten einen wunderbaren Rahmen dafür – und manche davon scheinen mich zwar anzulächeln. In einer Zeit, in der ganz nah bei uns in Europa der Krieg wieder seine häßliche, gräßliche, greuliche Fratze zeigt, tut das so richtig gut.
Von oben nach ganz unten: Als ich die Krypta betrete, schaltet der Mesner gerade seinen nicht gerade lärmgedämmten Staubsauger ein. Es ist noch früh am Morgen, und die „Schwarze Sara“ soll es ja schließlich sauber haben. Eine bemerkenswerte Heilige ist sie auf jeden Fall: Für die einen war sie die Dienerin der drei Heiligen Marien und kam mit ihnen aus dem Orient, für die anderen war sie eine Einheimische Kelto-Ligurierin, die zu einer Gruppe gehörte, die die Schiffbrüchigen rettete und sich danach taufen ließ.
Wie dem auch sei: Vor allem unter Zigeunern genießt sie höchstes Ansehen. Ich schreibe dieses „Unwort“ jetzt trotz aller Genderei ohne jegliches schlechte Gewissen nieder. Ich kenne viele tolle Musiker aus dieser Volksgruppe, die allesamt wunderbare Menschen sind und sich selbst so bezeichnen und stolz darauf sind. Und in dieser Kirche ist an allen Ecken und Enden von Zigeunern (auf den deutschen Infotafeln) oder Gitanes (in der französischen Version) die Rede. Und daher habe ich keinerlei Lust, mir irgendeinen Zwang zu angeblich „korrekter“ Sprache anzutun.
Vor genau zehn Jahren war ich in Kalkutta und habe dort natürlich auch den Tempel der Stadtgöttin Kali besucht. An sie werde ich jetzt hier in dieser Kellerkapelle mit den vielen Kerzen erinnert – obwohl Kali ja auch eine Göttin der Rache und Zerstörung ist und Sara einen viel freundlicher anblickt. Aber beide verbindet ihr schwarzes Gesicht.
Ich denke mir: Vielleicht ist die Schwarze Sara ja auch eine Ur-Erinnerung an die Ur-Heimat vieler Zigeuner. So wie der Wald für viele Deutsche. Möglicherweise ist die Schwarze Sara ja so etwas wie eine gedankliche Reinkarnation Kalis. Aber das ist nur so eine Idee von mir…
Auf jeden Fall verleiht die Schwarze Sara den Zigeunern Identifikation und gibt ihnen Stolz und Würde. Und das schenkt diesem über alle Zeiten verachteten, mit Vorurteilen bedachten, ausgestoßenen und auch verfolgten Volk eine unzerstörbare Würde. Und ich freue mich mit ihnen darüber.
Erlebt am 28. Februar 2022
Nähere Informationen:
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