Ein geradezu magischer Berg: das ist der Monviso in den Cottischen Alpen. In vier Tagen haben wir ihn in diesem Sommer umrundet. Hier meine Erinnerungen an die zweite Etappe.
Die Nacht im Rifugio Quintino Sella war nicht besonders gut, und so fällt mir das Aufstehen um 6 Uhr auch gar nicht so schwer wie sonst. Und welche Belohnung dafür darf ich erleben, als ich in der ersten Morgensonne, als die meisten noch schlafen, vor die Hütte trete! Um die kleine Kapelle herum tummelt sich ein ganzes Rudel Steinböcke in den verschiedensten Altersstufen. Verspielt und etwas ängstlich die Jungen, gelassener die Älteren – und einer mit besonders mächtigen Hörnern lagert etwas höher abseits und will wohl seine Ruhe.
Ich bin berührt, wie nahe mich diese wunderbaren Tiere an sich herankommen lassen, und es macht mich als Mensch traurig, daß meine Artgenossen vor etwa 150 Jahren dieses Vertrauen derart mißbrauchten, daß die Steinböcke um ein Haar ausgerottet worden wären.
Wir schauen uns in die Augen, zwei der Steinböcke kauen in aller Gemütsruhe ihr Frühstück weiter, und für mich hat es den Anschein, als würden wir miteinander kommunizieren. Oder ist das wirklich so? Zumindest mache ich ihnen keinerlei Angst. Nur als die ersten Flugzeuge über uns hinwegziehen, spitzen sie ob des ungewohnten Geräuschs irritiert die Ohren. Als sich zunehmend Leben in der Hütte regt, wird es meinen Kumpels dann wohl doch zu viel – als wir nach unserem Frühstück weiter wollen, sind sie verschwunden…
Wir verabschieden uns von Oriana und Ivano, die uns doch sehr vertraut geworden sind, und vereinbaren, in Kontakt zu bleiben. Für uns geht es jetzt erstmal fast eben an den idyllischen Seen vorbei zum Passo Gallarino, der um 87 Meter höher als die Hütte liegt. Doch lassen wir uns zur ersten Jause nieder, denn das Frühstück im Rifugio war nicht allzu üppig. Nacheinander kommen erst die Französinnen (zweimal Nicole und Sylvie) und dann auch noch die deutschen Damen von unserem ersten Quartier im Rifugio Pian della Regina (sie haben im Rifugio Alpetto übernachtet) vorbei, wir kommen beide mal ins Plaudern – und derweil hat sich ein Skandal ereignet!
Unbemerkt hat sich Arco, unser ebenso treuer wie hungriger Hund, an die etwa 300 Gramm Tiroler Speck, die ich als Proviant mitgenommen hatte, herangemacht und kein einziges Gramm davon übrig gelassen. Ich bemerke das erst, als ich mich frage, was er denn gerade so genüsslich kaut. Ein unglaublicher Fall von Mundraub einfach die Wegzehrung stibitzt…
Ob es daran liegt, dass wir zu früh gegessen oder ich zu schlecht geschlafen habe, weiß ich nicht – auf jeden Fall fällt mir das Weitergehen ziemlich schwer. Nun kreuzen wir übrigens unsere eigenen Wege – die nächsten Kilometer sind wir vor neun Jahren schon einmal gegangenen, nur in umgekehrter Richtung. Als wir den Passo di San Chiafredo überqueren, denke ich weniger an einen Heiligen als daß es hier wirklich affig kalt ist (wobei sich „freddo“ natürlich mit zwei D schreibt), an die unzähligen Steinmandl am Lago Bertin erinnere ich mich noch ganz genau, aber beim Weg hinunter bin ich mir nicht so sicher, was nun der größere Kampf war – der damals hinauf zum Pian Meyer und weiter nach oben oder der jetzt hinunter.
Noch über der Baumgrenze wollen wir uns auf jeden Fall kurz hinsetzen – und schlafen mit dem Rücken zum Felsen ein. Danach können wir dann wieder die Romantik im folgenden Wald mit den uralten Zirben und Lärchen spüren.
Am Pian Meyer fragt uns ein Hirte, ob uns denn seine Kühe begegnet sind. Als wir verneinen, entscheidet er sich, zunächst einmal am Weg zum Rifugio Bagnour, den nun auf die deutschen GTAlerinnen auf dem Weg zu ihrer letzten Übernachtung auf ihrem Teilstück der Grande Traversata delle Alpi (GTA) nehmen, zu suchen.
Leider ist die Pian Meyer mit ihren 2207 Metern nicht der tiefste Punkt unserer heutigen Tour – wir müssen noch hinunter auf 1912 Meter zur Grange Gheit, wo wir das erste der verfallenen Häuser sehen, die uns auf unserer GTA-Tour vor neun Jahren so ans Herz gewachsen sind. Noch sind wir gut in der Zeit, noch bin ich gelassen, den Oriana hat mir beim Frühstück erzählt, daß der Aufstieg in Richtung Rifugio Vallanta zwar lang, aber sanft ist. Und das stimmt zunächst auch, meine geliebten Piemonteser Kühe erfreuen mit ihrer unschuldsweißen Farbe mein Herz, das Bächlein Vallanta, plätschert munter dahin.
Wir machen auf etwa 2100 Metern noch eine Pause, doch dann, als wir spüren, daß wir doch schon 13 Kilometer in den Beinen haben, wird der Weg plötzlich steiler. Darauf hat uns Ivano heute morgen schon hingewiesen, doch „Ma no problema!“ hinzugefügt. Für uns wird das indes zum Grande Problema. Wir sind eben doch ausgelaugt und jeder Höhenmeter wird zur Qual.
Um 18.30 Uhr sind wir dann endlich am Rifugio, die beiden Nicoles und Sylvie, die sonst viel langsamer waren als wir, hatten schon eine Stunde zuvor eingecheckt. Unsere Kraft reicht nur noch für das schnelle Abendessen, dann fallen wir todmüde in unsere superschmalen Betten. Und ich schlafe ganz hervorragend.
Erlebt am Freitag, 9. Juli 2021
Statistik
Länge: 16 Kilometer
Dauer: 7 Stunden reine Gehzeit (!)
Höhenunterschied: 720 Meter bergauf/920 Meter bergab
höchster Punkt: 2768 Meter
tiefster Punkt: 1920 Meter
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Und hier die restlichen Etappen des Giro di Viso: