Ob einen eine Pilgerwanderung erfüllt, das entscheidet sich oft schon – am Abend, bevor es losgeht. Zumindest bei mir war es auf der Magna Via Francigena so.
Am Nachmittag waren wir noch in der herrlichen Kathedrale von Monreale, konnten uns kaum sattsehen an den wunderschönen Mosaiken, begeisterten uns an dem unverkennbaren byzantinischen und arabischen Einfluss. Christine fängt gleich an zu zeichnen, ich fotografiere fleißig. Vor allem die segnende Hand des Christus in der Kuppel läßt mich nicht los. Fünf Meter hoch ist die, erfahre ich. Gewaltig. Und dennoch (oder deswegen) beruhigend und im Herzen berührend.
Und so bleiben wir lange in dem uralten Gotteshaus, länger auch als wir es eigentlich vorhatten. Noch schnell ein Kaffee in der Bar Italia, und dann geht es los in Richtung unseres ersten Quartiers in der Nähe von Santa Cristina Gela: der Casa Pianetto.
Aber an der richtigen Abzweigung fahr ich wohl erstmal vorbei. Ich lande in einem Vorort von Palermo, verfranze mich dort offenkundig, finde mich mit meinem Ford Transit Euroline plötzlich in Gassen wieder, für die das Wort „eng“ gar kein Ausdruck ist, wähne schon, falsch in eine Einbahnstraße gefahren zu sein, werde nicht dadurch beruhigt, daß nach einiger Zeit zwei andere Autos hinter mir fahren (die drängeln und hupen voller Ungeduld) – und dann kommen prompt noch zwei entgegen, und zwar in einer Biegung!!!!
Jetzt müssen wir rückwärts fahren, gottlob nicht allzu lang, nur bis zu einem Mini-Platz, wo schon zwei Autos geparkt sind. Der freundliche Hausbesitzer dirigiert mich zusammen mit Christine auf die letzte noch verbliebene Mini-Fläche – und tatsächlich kann sich das entgegenkommende Auto dann millimeterscharf noch vorne vorbeischieben.
Es ist nochmal gut gegangen, aber ich mache drei Kreuze, als ich endlich wieder auf einer Straße bin, auf der auch zwei Autos aneinander vorbei passen, wenn sie mit den rechten Rädern die Grünfläche daneben benutzen. Und gottseidank bin ich ja ab morgen zehn Tage zu Fuß unterwegs.
Dann aber sind wir endlich aus dem Straßendschungel und Autogewirr hinaus, erklimmen über Altofonte die Berge oberhalb der „goldenen Muschel“ (wie Palermo in alter Zeit auch genannt wurde) und sind binnen Minuten in einer anderen Welt.
Lange Zeit war diese Ebene menschenleer. Besiedelt wurde sie erst Ende des 15. Jahrhunderts. Von christlichen Albanern, die vor den (muslimischen) Osmanen, die ihre Heimat erobert hatten, geflüchtet waren und sich hier in der totalen Einsamkeit niederließen. Piana degli Albanesi heißt das kleine Städtchen das zehn Kilometer entfernt liegt, noch heute. Und die Ortstafeln und Hinweisschildern sind zweisprachig: Hora e Arbëreshëvet, heißt es in der Sprache derer, die vor einem halben Jahrtausend hier einwanderten.
Wir sind trotz meiner Irrfahrt durch die palermitanischen Vororte doch noch relativ pünktlich an dem kleinen Häuschen außerhalb des eigentlichen Dorfes Santa Cristina Gela, das uns diese Nacht als Domizil dienen soll. Und vom allerersten Moment an begeistert von der Herzlichkeit, die uns hier entgegenschlägt.
Für Silvana und Franco sowie Zoe und Noa, die beiden Töchter, die wir nach der kleinen Stadtführung, zu der uns Franco noch mit seinem Auto herumkutschiert und uns zeigt, wo es morgen losgeht, noch hinzukommen, sind wir offenkundig mehr als nur Übernachtungsgäste. Und sie für uns mehr als nur Gastgeber.
Silvana auf jeden Fall tischt auf, als wäre es ein Festmahl für gute Freunde. Wie lange muss sie dafür in der Küche gestanden haben! Sie aber macht keinerlei Aufhebens darum. Für sie ist das selbstverständlich.
Schon der Auftakt ist ein Gedicht: Muffuletta und Schafskäse. Und auch die Grissini, die ich ja schon seit meiner Kindheit aus Turin kenne, sind eine Augenweide. Franco (von Beruf Bäcker) stellt eine Variante mit Sesam auf den Tisch. Auch da muss ich aufpassen, dass ich nicht zu viel esse. Sonst bekomme ich ja nachher nichts mehr runter.
Eigentlich hätte das als Abendessen schon lange gereicht. Aber jetzt holt Silvana den Suppentopf aus der Küche. Und nun kommt nicht zuletzt Christine ins Schwärmen: Die Zuppa die Legumi (Hülsenfrüchte-Suppe) mit Berg-Fenchel ist einfach ein Traum.
Doch damit immer noch nicht genug. Nach Vorspeise und der Suppe als Primo hätte wohl mancher (inklusive uns) genug, aber auch das Secondo in der Casa Pianetto muss einfach sein: Zunächst herrlich zarte Rouladen aus Schweinebauch, danach noch ein deftiges Gulasch. Alles fantastisch!
Jetzt ist es aber ist es genug! Denkste! Jetzt kommt Francos großer Moment: Denn ein Dessert darf auf Sizilien ganz einfach nicht fehlen. Und Franco zelebriert die Canolli („kleine Rohre“) regelrecht, doziert, während er sie vor unseren Augen füllt, dass es auf das richtige Verhältnis zwischen Ricotta und Vanille ankommt, und läßt so spüren, mit wie viel Liebe und Leidenschaft er seinem Beruf als Bäcker nachgeht.
Am nächsten Tag gibt er uns in seiner Bäckerei noch je ein Brot mit auf unsere Pilgerschaft. Es sollte sich als das beste erweisen, das ich in fünf Wochen Sizilien (inclusive Quarantäne auf dem Camping El Bahira in San Vito Lo Capo) bekommen sollte.
Am Ende dieses Auftakt-Abends der Magna Via Francigena bin ich pappsatt. Aber nicht nur gefüllt mit fantastischem Essen. Sondern auch im Herzen erfüllt von der Gastfreundschaft dieser wunderbaren Menschen. Ich bin froh, daß wir nicht in ein Restaurant zum Essen gegangen sind, sondern dieses Gala-Diner nutzen konnten, um uns voneinander zu erzählen, Herzlichkeit und Herzensfreundschaft zu erleben und sie miteinander zu teilen. Ein wahrer Traum zum Auftakt.
Silvana gibt mir am nächsten Morgen ihr Gästebuch: „Bitte schreibt noch was rein!“ Ich blättere die Seiten durch und spüre: Wir sind nicht die einzigen, denen es so ergangen ist wie uns. Da steckt eine Lebenseinstellung dahinter.