Bald geht es los: Der Stadt ist ganz nah, das Ziel noch weit. Morgen will ich zu meiner Via Pensionista aufbrechen – meinem ganz persönlichen Weg in den Ruhestand. Heute morgen sind wir schon um 6 in Reutte von Christines Wohnung aus gestartet und dann ganz gemütlich angerollt. Frühstück gibts in Pfunds, dem letzten Dorf Tirols, bevor es ins Engadin geht. Und da wir dem befürchteten Mega-Stau wohl voraus fahren können, Vermögen wir die Bummelei durch Graubünden so richtig zu genießen.

Beim Gassigehen mit Arco und Meditieren kurz vor Bever fasziniert uns dieses fantastische Hochtal, und wir staunen über die Hummeln, die sich an dieser herrlichen Blumenwelt gütlich tun. Und mit unseren Rest-Franken vom Winter-Wochenende in Zürich gönnen wir uns Tee und Kaffee im tollen Garten der Chesa Salis, dem Hotel, in dem wir schon vor zwei Jahren unvergesslich Tage verbracht haben.

Die Seen zwischen Sankt Moritz und Maloja-Pass haben ihr schönstes Blau ausgepackt und strahlen in der Sonnenpracht. Da macht es auch nicht viel aus, das ich auch dem Weg hinunter ins burgengeschmückte Bergell am Steuer unseres Ford Transit ordentlich kurbeln muß. Übung macht eben auch im Alter den Meister.

Gegen Mittag machen wir Station auf dem kleinen, aber feinen Campingplatz Aquafraggia in Borgonuovo, kurz vor Chiavenna. Also schon in Italien.

Von dort ist es nicht weit zu den Wasserfällen, die dem Campingplatz den Namen gegeben haben: Aquafraggia. Es ist erst früher Nachmittag, und so lassen wir uns das nicht entgehen: In der Sonne liegen, dann sich bei einem Sitzbad im Gumpen abkühlen (wie als kleiner Bub mit dem Vati im Schwäbischen Wald), im kalten Wasser meditieren und philosophieren: So läßt es sich aushalten!

Fast 40 Jahre war ich bei der Nürtinger Zeitung. Ab 1. August stehe ich auf der Gehaltsliste der Deutschen Rentenversicherung. Und deswegen bin ich ja hier. Nach einem erfüllten Berufsleben kommt nun ein Einschnitt, und ich möchte einen harten Schnitt. Erstmal Distanz zum einst so hektischen Alltag gewinnen, und vielleicht ist mir das Wasser des Bergell da irgendwie ein Wegweiser. Oder Ratgeber.

Wenn es sich über mehr als hundert Meter ins Tal stürzt, dann hat es keine Angst, sondern vertraut darauf, heil anzukommen und irgendwie aufgefangen zu werden. Und nach diesem Einschnitt drunten im Tal, ist es einfach im Fluß und läßt sich zum Ziel treiben. Für mich ein wunderschönes Bild! Das eine Sehnsucht in mir weckt.

Morgen soll es losgehen. Ich weiß nur, wo es losgeht. Mit dem Zug von Chiavenna über Colico nach Morbegno, danach mit dem Bus nach Albaredo. Und dann irgendwie hoch zum Rifugio Piazza. Am Rand des Naturparks Bergamasker Alpen (oder Orobie, wie die Italiener sagen). Und dann weiter gen Osten – von Hütte zu Hütte!

„Der Weg ist das Ziel“: Ja, ja ich weiß – das ist wohl der abgedroschenste Satz übers Wandern (und Pilgern), den es überhaupt gibt. Aber in meiner jetzigen Lebenssituation stimmt er hundertprozentig. Und ich hoffe, ich werde das hinkriegen. Mal nicht mehr als den nächsten Tag planen, auch mal stehen bleiben, anhalten, innehalten, wenn es das Wetter erfordert oder es irgendwo besonders schön ist, mal eine Kulturpause in einer Stadt einlegen – ganz generell: sich treiben lassen, so lang und so weit es irgend geht. Wie das Wasser von Aquafraggia. Ich bin gespannt auf mich selbst. Vielleicht überrasch ich mich ja.