Wüstenväter? Wüstenmütter? Was soll das denn sein? Mit denen kann man doch in unserer modernen aufgeklärten Zeit nichts anfangen! Denken viele. Vielleicht (oder vermutlich) die meisten.
Doch stimmt das? Ich sage: absolut nicht!
Man muss sich diese fast 2000 Jahre alten Geschichten nur mal anschauen. Und zwar nicht nur mit den Augen. Sondern auch mit dem Herzen. Und dann in sich selbst widerspiegeln. Sei’s bei einer Wanderung oder ganz einfach in der Stille.
Beispiel gefällig? Bitteschön:
Einmal kamen Altväter zum Altvater Antonios, und unter ihnen war auch der Altvater Joseph. Antonios wollte sie prüfen, legte ihnen ein Wort der Schrift vor und begann, sie, von den Jüngeren angefangen, zu fragen, was das Wort bedeute.
Jeder gab Antwort, je nach seinem Vermögen. Der Greis sagte zu jedem: „Du hast es noch nicht gefunden.“
Zuletzt von allen sprach er zum Altvater Joseph: „Was sagst denn du, daß dieser Spruch bedeute?“ Seine Antwort war: „Ich weiß es nicht.“
Da sprach der Altvater Antonios: „Wahrhaftig, Altvater Joseph hat den Weg gefunden, indem er sagte: ,Ich weiß es nicht.’“
Ja, wer kennt sie nicht. Die, die alles wissen. Die Analysten, die die Entwicklung der Börsenkurse genau vorhersagen können. Die Meinungsforscher, denen schon jetzt klar ist, wie die nächste Wahl ausgeht. Die Politiker und – innen, die uns immer sagen, was gerade alternativlos ist. Die selbsternannten Propheten, die auf den Tag genau mitteilen können, wann die Welt untergeht. Die Ratgeber-Autoren, die viel Geld damit machen, indem sie uns erzählen, wie man den Traumjob kriegt, ohne Aufwand reich wird oder die ideale Beziehung führt.
Heutzutage scheint man alles sagen zu dürfen. Nur eins nicht: „Ich weiß es nicht!“ Warum eigentlich nicht? Da kommt einem fast unweigerlich das alte Sprichwort in den Sinn: „Der Ehrliche ist der Dumme!“ Und dumm will ja keiner sein. In Indien (zumindest in Calcutta) gibt man lieber eine falsche Antwort, als zuzugeben, dass man was nicht weiß. Also gaukelt man lieber Wissen vor. Aber das gilt wohl nicht nur für Indien.
Aber gaukeln wir uns im Grunde nicht alle was vor? Ist es wirklich so schlimm, zu hören (oder auch zu sagen) „Ich weiß es nicht“?
Ich meine: Das genaue Gegenteil stimmt. Ich habe genug von den Alleswissern und Besserwissern. Und den Alleswissenwollern.
„Ich weiß, dass ich nicht weiß“, soll Sokrates einmal gesagt haben. Ohne ein S am Schluss des vorletzten Wortes. Eine Weisheit, die in der Welt von heute wohl untergegangen ist. Leider.
Ich halte mich an Altvater Joseph. Er hat den Weg gefunden. Vielleicht sollte ich ihm folgen. Oder zumindest häufiger an ihn denken.